
Sechste Woche
Großstadttiere
Privatdetektiv Nevilles
dreizehnter Fall
Der Auftrag
Entspannt lehnte ich mich im Sessel zurück und zog genüsslich an meiner Zigarre, malte dabei runde weiße Rauchzeichen in die Luft.
Das Fenster war weit geöffnet. Ein warmer Wind wehte die vielfältigen Gerüche der Großstadt zu mir herüber. Allmählich zog die Dämmerung auf, legte sich wie ein grauer Schatten über die Gassen Wiens. Die ersten Lichter in den Häusern wurden entfacht. Das lebendige Treiben der Menschen verebbte. Das ratternde Geräusch von Kutschrädern auf Steinpflastern, das Getrappel und Wiehern der Pferde verstummte allmählich. Die Stadt kam zur Ruhe.
Vorsichtiges Klopfen weckte mich aus meiner Versunkenheit. Ich knipste die Lampe auf dem Schreibtisch an.
»Herein!«, rief ich und blickte erwartungsvoll auf.
Ein junges Mädchen, ich schätzte sie auf elf Jahre, in einem sommerlich geblümten Kleid betrat mein Büro. Verschüchtert blieb sie im Türrahmen stehen.
»Ich suche Privatdetektiv Neville. Wissen Sie, wo ich ihn finden kann?«
Ich strich mit der Pfote über meine Schnurrhaare. »Ich bin Neville. Komm ruhig näher. Was führt dich zu mir?«
»Ich vermisse meine Lucy. Sie ist einfach verschwunden.« Eine Träne kullerte über ihre linke Wange. Ich bot ihr einen Stuhl an, und sie setzte sich.
»Wie heißt du denn?«
»Ich bin Emma. Irgendjemand hat meine Lucy entführt.«
»Und wer ist Lucy? Ein Papagei, ein Hamster, ein Hund?«
»Ein Hund. Ein Jack Russel.«
»So, so! Und was genau ist passiert?«, wollte ich wissen und zückte meinen Notizblock.
Abwärts
»Und da willst du runter?« Mia schaute mich entgeistert an. »Das glaub´ ich nicht.«
Wir standen in einem Keller eines verwitterten Hauses in einer Seitengasse vom Naschmarkt. Fahles Mondlicht fiel durch die Fenster und gab den Blick auf eine rechteckige Öffnung im Kellerboden frei. Eine enge Treppe führte wendelförmig nach unten. In der Ferne war das leise Rauschen eines unterirdischen Flusses zu vernehmen.
Ich schaute Mia an. Ihre gelben Augen funkelten in der Dunkelheit. Ihr drahtiger, kraftvoller Körper war zum Zerreißen gespannt. Ihre Fellhaare leicht aufgestellt. Mia war eine Javanese. Meine Assistentin. Meine engste Vertraute. Meine beste Freundin. Kurz um, ich war verliebt. Aber das ist ein anderes Kapitel.
»Das Mädchen berichtete mir, dass Lucy am Naschmarkt verloren ging. Jemand hat ihr den Hund entrissen und ist in der Menge untergetaucht.«
»Und wie kommst du gerade darauf, dass Lucy hier unten sein könnte?«
»Sie trug ein hochwertiges Halsband. Emma beobachtete, wie der Dieb einen Kanaldeckel verschob und darin zusammen mit Lucy verschwand. Es könnte ein Metallstrotter gewesen sein, der sie entführt hat.«
»Ein was bitte?«
»Das ist jemand, der nach Metallstücken in der Kanalisation sucht und verkauft.«
»Verstehe. Ist ja ekelhaft! Brr!«
»Es kommt noch schlimmer. Es gibt auch solche, die Fett, Fleischreste und Knochen aus der Kanalisation fischen, diese trocknen, um sie dann Seifenproduzenten anzubieten.«
Angeekelt schüttelte sich Mia. »Bist du jetzt mit deinem Vortrag fertig?«
»Ja!«
»Dann lass uns loslegen. Sonst kommt mir mein köstliches Hühnchen in Soße gleich wieder hoch.«
Lautlos sprangen wir auf die erste Stufe der Treppe und lauschten. Außer dem entfernten Rauschen des Wienflusses, der sich durch die unterirdische Kanalisation schlängelte, hörten wir nichts.
Dann liefen wir los. Endlos ging es hinab.
Wir näherten uns dem Ende der Treppe. Mia hielt inne. Ich hatte ihn ebenfalls bemerkt. Ein Mann kauerte auf dem Fußboden und schlief. Seine Kleider waren dreckig, sein Haar fettig zerzaust und er stank nach Abwasser.
»Ein Strotter«, flüsterte ich und näherte mich ihm vorsichtig. Ich hob meinen Kopf, rümpfte die Nase und presste mit der Zunge die eingesaugte Luft gegen den Gaumen. Außer einer Alkoholfahne war nichts an seinen Ausdünstungen zu erkennen, das in irgendeiner Art auf Lucy hindeuten könnte.
»Fehlanzeige! Der hatte keinen Kontakt mit ihr. Komm weiter.«
»Woher willst du das wissen?
»Das Mädchen hatte das Schmusetuch von Lucy dabei. Der unverwechselbare Duft einer Hündin. Und ein wenig Veilchenaroma.«
»Verstehe.«
»Wir müssen zu den »Fliegenden Brücken«, Mia! Womöglich kommen wir da weiter.«
»Jetzt machst du mich aber neugierig.«
Wir liefen durch einen schmalen Gang. Das Geräusch des Flusses wurde lauter. Dann standen wir vor ihm. Kraftvoll rauschte die Wien dahin. Wir sahen uns um und erstarrten. Auf den feuchten, steinigen Böden lagerten etwa ein Dutzend Griasler.
»Was ist das hier?«, wollte Mia wissen.
»Das sind Obdachlose, die hier unten leben und vor dem Wetter Schutz suchen. Wir müssen an ihnen vorbei. Dort hinten geht es zu den »Fliegenden Brücken««. In einiger Entfernung zeichnete sich eine ovale Öffnung in der Mauerwand ab.
In diesem Augenblick wurden wir entdeckt.
»He, seht mal, zwei Katzen!«, rief einer der Griasler. »Was wollen die denn hier? Kommt her! Miez, miez, miez! Lecker Abendessen.«
Langsam kamen sie mit weit ausgebreiteten Armen auf uns zu. Dabei gaben sie komische Lockrufe von sich, die sich in unseren Ohren, wie das Krächzen von Krähen anhörten.
»Los! Weg hier! Sonst werden wir gegrillt!«
»Zurück durch den Gang?«, fragte Mia.
»Nein, wir müssen zu den Brücken!«
»Dann los!« Fauchend gingen wir zum Angriff über. Ihre Schmerzensschreie hallten durch den Kanal. Blutige Rinnsale strömten dem Fluss entgegen.
Von Weitem sahen wir uns noch einmal um. Das leckere Abendessen, das sie sich erhofft hatten, fiel aus!
Dann sprangen wir durch die ovale Öffnung und rutschen in die Tiefe hinab.
Lucy
Wir standen in einer riesigen Halle. Unter und über uns flossen eine Reihe von Kanälen auf verschiedenen Ebenen dahin. Brücken und Treppen aus Metall zogen sich an den Wänden entlang.
Wir erblickten einen Mann, der auf einer der Brücken kniete. Ein gefährliches Knurren hallte von den Wänden wider, gefolgt von aufgeregtem Bellen. Der Mann fluchte laut. Sprang auf, hielt sich die Hand und tanzte wie ein Stepptänzer hin und her.
»Lucy!«, entfuhr es mir. Wir hatten sie gefunden.
»Komm schon, her mit dem Halsband!«, schrie der Fremde.
Der Hund wich knurrend zurück, kam dabei dem Abgrund gefährlich nahe. Der Brücke fehlte das Geländer. In der Tiefe floss die stinkende Brühe.
Wie ein Raubtier sprang der Mann plötzlich auf Lucy zu. Geschickt wich sie ihm aus. Der Dieb kam ins Rutschen und glitt über den Rand der Brücke. Strampelnd versuchte er an irgendeiner Stelle Halt zu finden. Vergeblich! Mit einem lauten Schrei tauchte er in das braune Wasser ein und verschwand.
Erschrocken schlug ich die Augen auf. Mein Kopf dröhnte. Was für ein Albtraum! Langsam kam die Orientierung zurück.
Im Haus war es leise. Die Scheinwerfer eines vorbeifahrenden Autos zogen an den Wänden des Zimmers entlang. Lucys Pfoten berührten meinen Rücken. Ihr Atem ging gleichmäßig.
Ohne sie zu wecken, schlich ich leise zum Fenster. Ein dunkler, schlanker Schatten strich durch unseren Garten. Gelbe Augen leuchteten mir entgegen. Es war Mia! Meine Mia. Sie wartete schon ungeduldig, bereit für ein neues Abenteuer in den Gassen von Wien.