
Ulrich von dem Weidenthal
Die Wilde Horde kam ohne Schwierigkeiten voran. Von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidet, die Gesichter rußgeschwärzt, schlugen sie sich durch das Erlendickicht bis zum Eisenbahndamm und überquerten ihn. Bald darauf erreichten sie die ersten Häuser. Umsichtig verharrten sie im Schatten der Mauern und lauschten. Ein Hund bellte in der Ferne. Vereinzelt war das Getrappel von Pferdehufen zu vernehmen, das sich rasch entfernte. Ansonsten herrschte einsame Stille.
Ein diabolisches Grinsen huschte über Andys Gesicht. Wie erwartet, waren alle Bewohner auf dem Markt unterwegs. Ein kurzes Nicken und drei Mitglieder der Bande lösten sich aus dem Schutz des Versteckes. Zügigen Schrittes liefen sie die Gerichtsgasse entlang, derweil Andy mit zwei weiteren Kumpanen in Deckung verblieb.
Am Ende der Gasse bogen sie in einen Feldweg ein, der sie direkt zu den rückseitigen Stallungen der Domäne führte. Rasch öffneten sie ein schweres Schiebetor, schlüpften unbemerkt hindurch, und gelangten über eine steile Holztreppe ins Obergeschoss.
Hinter den Fenstern gingen sie in Stellung. Von hier oben war der gesamte Domänenhof einzusehen, ohne selbst entdeckt zu werden.
»… und, Junge, wie gefällt dir diese Schreibmappe?«, fragte der Händler erkennbar ungeduldig. Der kleinwüchsige Mann hinter der Auslage stand auf einer Holzkiste, von der er immer wieder runter sprang, um sie zu verschieben, wenn William zu einer anderen Stelle des Verkaufstisches wanderte.
Sie hatten sich von vielen Händlern die unterschiedlichsten Mappen zeigen lassen. Aber eine endgültige Auswahl zu treffen, fiel William schwer. Für seinen Geschmack waren sie entweder zu klein oder zu groß. Bei einer war das Papier von minderwertiger Qualität und der Einband ramponiert.
So lief das nicht. Ohne eine neue Schreibmappe würde er den Domänenhof nicht verlassen. Das stand eindeutig fest.
William und sein Onkel nickten den kleinen Mann enttäuscht zu. Höflich verabschiedeten sie sich von dem Händler, bedankten sich für seine Mühe und schlenderten in Richtung Domänentor.
»Jetzt bekomme ich aber langsam echten Kohldampf«, sagte Nicholas und rieb sich seinen knurrenden Leib. »Komm, William! Dort drüben, die Ochsenbraterei! Da gibt es etwas Handfestes zu beißen!«
»Geh nur, hab´ keinen Hunger. Ich werde hier warten«, sagte William enttäuscht und ließ sich auf eine leere Obstkiste fallen. »Ich ruhe mich aus.«
»Na gut, aber du rührst dich nicht vom Fleck!«, befahl Nicholas und lugte hungrig zum Ochsenstand hinüber. »Bin gleich zurück, nicht weglaufen. Wenn wir uns verlieren, dann kennst du ja unseren Treffpunkt.« Er stampfte davon und tauchte in der Menschenmenge unter.
Eine leise Traurigkeit umfing William.
»So ein Mist!« Er nahm ein paar Kieselsteine vom Boden auf und ließ sie gedankenverloren durch seine Finger rinnen. Das geschäftige Treiben im Hof hatte deutlich zugenommen. Die letzten Nachzügler waren eingetroffen und der Domänenhof platzte allmählich aus allen Nähten.
»So viele Menschen, in so vielen verschieden Schuhen«, staunte William. »Neu und abgewetzt, einfarbig und bunt, sauber und dreckig, groß und klein.«
Dort - diese hellbraunen Lederstiefel, die sich da vor ihm aufbauten. Obwohl sie leicht mit Staub bedeckt waren, sahen sie doch recht gepflegt aus. Komisch war nur, dass sie sich nicht bewegten, so wie all die anderen, die über den Hof eilten. Sie standen still und starr vor ihm. Er warf ein paar Kieselsteine in die Richtung, aber die Stiefel rührten sich nicht. William empfand leichtes Unbehagen. Diese Stiefel - was wollten sie von ihm? Und zu wem gehörten sie? Sein Unbehagen wuchs, denn er meinte unter Beobachtung zu stehen. Verrückt zwar, aber ...! Am liebsten wäre er aufgesprungen, um in der Menschenmenge unterzutauchen. Doch er blieb sitzen, fast wie gelähmt und rührte sich nicht.
»Hallo, William! So sieht man sich wieder.« Er zuckte zusammen. Die Stiefel sprachen zu ihm und kannten seinen Namen. Diese Stimme, dieser wohltönende, beruhigende Klang, kam ihm aber bekannt vor.
»Lust auf ein neues Abenteuer?«
Er blickte auf und sah in das heitere Gesicht des Gauklers.
»Etwa auf ein neues Spiel? Ich habe keine Münzen«, antwortete er schnell. »Außerdem warte ich hier auf meinen Onkel.«
»Das macht nichts, William!« Der Mann kniete sich vor ihm hin. »Für dieses Spiel benötigst du keine Münzen. Schau nur genau hin.«
Er streckte seine leeren Hände vor, rieb die Handflächen aneinander und eine goldene Münze erschien.
William war beeindruckt.
»Willst du sie mal anfassen?«, fragte der Gaukler lächelnd.
»Ja, gerne!«
»Sie heißt, Vivien«, sagte er und legte das Geldstück in Williams Hand.
»Eine Münze mit einem Namen?«
»Ja, sie ist einer mutigen Frau gewidmet, einer großen Kämpferin aus einer längst vergangenen Zeit.«
Respektvoll drehte William das Goldstück hin und her. Ungewöhnlich schwer wog das Metall in seiner Hand.
»Einst gehörte sie einem alten Zauberer«, fuhr der Gaukler in seiner Erzählung fort. »Der lebte weit jenseits dieser Wälder in einem fernen Land voller Magie. Das Zauberreich ist seit Langem verloren, untergegangen mit der »Alten Welt«, aber noch immer umweht eine geheimnisvolle Kraft diese Münze. Es wird erzählt, dass in ihr die gesamte Geschichte der »Alten Welt« verborgen schlummert. Sie wird dir einen Wunsch erfüllen, William, aber nur, wenn dein Herz rein, dein Geist frei und deine Gedanken nicht von Macht und Habgier besudelt sind.«
»Sie besitzt geheimnisvolle Kräfte? Und sie erfüllt mir einen Wunsch?«
Der Gaukler nickte.
»Was für eine faszinierende Geschichte!«, sagte William.
»Ja, sie zieht einen in ihren Bann.«
»Ich bin mir nicht sicher.« William zögerte.
»Du hast nichts zu befürchten, weil es ja nur ein Spiel ist, und Spiele sind dazu da, uns zu verzaubern, uns vom Alltag abzulenken und uns ins Träumen zu versetzen. Denk an die Karten, die wie ein bunter Konfettiregen über dir zerplatzten! Das war nichts weiter als ein Spiel, ein Trick, eine Illusion.« Und nach einer Pause fügte er hinzu: »Wollen wir beginnen?«
William gab sich einen Ruck. »Warum nicht!«, sagte er und setzte sich in Position.
»Dann nimm die goldene Münze in die linke Hand, balle sie zu einer Faust und schließe deine Augen«, sagte der Gaukler leise, in einem hypnotischen Tonfall.
»Aber ich will meine Augen nicht schließen! Das ist mir nicht geheuer. Ich möchte sehen, was passiert.«
»Du brauchst keine Angst zu haben, William! Es ist nur ein Spiel, eine Illusion, das verspreche ich dir …, und nun versuche, deine Angst zu vergessen …, vertraue mir ..., schließe die Augen und konzentriere dich auf die goldene Münze …, spüre, wie sie schwer in deiner Hand liegt …, spüre ihre wohlige Wärme …, spüre ihre Stärke …, vertraue der goldenen Münze …, vertraue ihr …, vertraue ihr …, vertraue ihr …!«
William schrie auf. Die Münze in seiner Hand brannte auf einmal wie Feuer. Erschrocken riss er die Augen auf. Seine Faust leuchtete wie glühende Kohle. Reflexartig versuchte er, die Münze von sich zu schleudern, dabei kippte er rücklings von der Obstkiste und rutschte unter die Auslage. Verwirrt blieb er liegen. Er wartete darauf, dass der Schmerz von seinem gesamten Körper Besitz ergreifen würde. Aber die Hand, sie schmerzte nicht mehr. Er rappelte sich hoch. Seine Handfläche war unversehrt. Nicht die Spur einer Verbrennung war zu erkennen, nicht die kleinste Rötung. Sein Blick wanderte zur Obstkiste. William traute seinen Augen kaum: Vor ihm lag die feinste Schreibmappe, die er je gesehen hatte.
»Das kann doch nicht wahr sein«, stammelte er ungläubig, »mein Wunsch, mein Wunsch hat sich erfüllt.« Er strich mit den Fingern über das Leder. »Wie elegant der Einband ist! Sieh doch, Gaukler!« Aber der Mann, der eben noch vor ihm kniete, war wie vom Erdboden verschluckt.
In diesem Moment setzte ein ohrenbetäubendes, helles Pfeifen ein. Ein heißer Lufthauch streifte seine Wange. Geistesgegenwärtig schlug er eine Rückwärtsrolle und duckte sich hinter die Obstkiste. Ein weiterer Pfeil zischte pfeifend heran. Gleich gegenüber explodierte ein dicker Strohballen. In wenigen Augenblicken stand das gesamte Stroh in Flammen. Die Luft war erfüllt von Schwefelgeruch und Pulverdampf. Rasch griff das Feuer auf die Verkaufsstände über. Der Rauch brannte in den Lungen und nahm einem die Sicht. Menschen rannten in Panik wild schreiend umher.
In aller Eile griff William nach seiner Schreibmappe, dabei fiel ihm Vivien, die goldene Münze, wieder ein. Wo war sie nur geblieben? Er hatte sie in einem hohen Bogen hinter sich geworfen. Bäuchlings robbte er unter die Auslagen. Fast blind tastete er auf dem Boden umher, stieß mit dem Kopf gegen eine Holzstange, rollte sich zur Seite und da sah er sie - eingeklemmt zwischen zwei Steinen. Ihr Glanz war dem einer billigen Messingmünze gewichen und er zögerte kurz. Aber da spürte er sie wieder – diese Schwere, die ihn vorhin bereits in ihren Bann gezogen hatte. Geschwind steckte er sie in seine Hosentasche.
Er richtete sich auf und prallte gegen eine dichte Wand aus Feuer und beißendem Rauch. Der gesamte Domänenhof brannte lichterloh. Er saß in der Falle. Hohe Mauern zu allen Seiten und nur ein Ausgang: das Domänentor – hinter dem Flammenmeer verborgen.
Das Kratzen in seinem Hals war unerträglich. Er hustete schwer.
»Jetzt bloß nicht aufgeben«, machte er sich Mut. »Wenn ich nur etwas sehen würde!«
Kurz frischte der Wind auf. Im abziehenden Qualm erkannte er für einen Wimpernschlag das Domänentor. Er rannte los, seine Schreibmappe fest unter den Arm geklemmt. Zusammen mit hundert flüchtenden Menschenleibern stolperte er auf den Vorplatz hinaus.
Er sah sich um. Wo war sein Onkel? Von Nicholas keine Spur.
Die Luft kam langsam zurück. Das Atmen fiel wieder leichter. Das Kratzen im Hals aber blieb.
Menschen rannten wie von Sinnen an ihm vorüber, stießen ihn fast um. Heftig schlagendes Glockengeläut drang an sein Ohr. Rasch drehte er sich um seine eigene Achse. Er sah einen heranpreschenden, vierspännigen Feuerwehrwagen auf sich zukommen, der sich in voller Fahrt seinen Weg durch die Menschenmenge bahnte.
Er sprang zur Seite, lief weiter, stoppte, drehte sich um und hoffte, dass Onkel Nicholas endlich auftauchen würde. Angst stieg in ihm auf. Sein Herz klopfte wie wild. Seine Gedanken überschlugen sich. Dann beschloss er, bis zur ersten Anhöhe oberhalb des Dorfes zu laufen. Dies war ihr geheimer Treffpunkt.
William ließ die Domäne hinter sich und bog in die Gerichtsgasse ein. Er hatte geschätzt die Hälfte der Gasse zurückgelegt, als drei in schwarz gekleidete Gestalten aus einer Mauerdeckung hervorsprangen und ihm den Weg versperrten.
Leider erkannte er die Gefahr zu spät und wurde von Andy, beim Versuch über einen Zaun abzuhauen, zurückgerissen.
»Wen haben wir denn hier?« Er packte William derb am Kragen und schüttelte ihn kräftig durch.
»Sieh an, sieh an, ein Botterbloom!«, bemerkte er abschätzig. »Jetzt willst du dich am liebsten in deiner Burg verkriechen, hä, hä, hä! Und wie der aussieht! Fast wie einer von uns.« Schallend lachte er über seinen eigenen Witz.
William wischte sich hastig mit dem Handrücken über das Gesicht und bemerkte, dass er über und über mit Ruß und Dreck beschmiert war.
Andy zog ihn dichter zu sich heran. »Los, sprich: Was hast du hier unten im Dorf zu suchen?«
»Ich war auf dem Markt«, stammelte William eingeschüchtert.
»Lass uns etwas übrig, Andy«, riefen die anderen und ballten ihre Fäuste.
»He, he, immer mit der Ruhe, Jungs! Er gehört mir. Ich entscheide, was mit ihm geschieht!« Andy hielt mit einer Handbewegung seine Kumpane zurück. »Zeig mal, was du da hast!«
Andy riss William die Mappe aus den Händen und stieß ihn unsanft zu Boden.
»Eine Schreibmappe? Lachhaft! Das ist doch nur was für Mädchen.«
»Komm, Andy, gib sie mir wieder! Bitte!«
»Lass mich! Mal sehen, wem du so alles schreibst.«
»Niemanden, die ist neu.« William stand auf und wischte sich den Staub von der Hose.
»Warte, das werde ich gleich überprüfen.«
Voller Neugier drehte er die Mappe mehrmals hin und her, fand aber auf Anhieb keinen Schließmechanismus. Selbst ausgiebiges Schütteln brachte nicht den erhofften Erfolg. Dann horchte er sogar mit einem Ohr, ob sich in ihrem Inneren etwas regte.
Voller Ungeduld warf er die Mappe in den Staub und trat mit seinen dicken Stiefeln auf ihr herum. Das Leder knirschte und ächzte unter der Gewalt seiner Tritte.
»Schluss damit, Andy! Der Spaß ist vorbei!«, gellte eine Stimme durch die Gasse. Alle vier zuckten zusammen. Blitzschnell riss William seine Mappe an sich.
»He, wer spricht da?« Andy schaute sich verblüfft um. Die Gasse war menschenleer.
»Feigling, komm, zeige dich!«, tönte Andy und stemmte seine Arme kampfbereit in die Hüften.
»Ich bin hier, du Wicht, gleich hinter dir!«, hörte man die Stimme erneut zwischen den Häusern hallen.
Andy drehte sich im Kreis und bellte seine beiden Spießgesellen an: »Los, sucht ihn und wer immer es ist, bringt ihn mir!«
»Das wird nicht nötig sein, Andy! Ich bin hier!«
Aus dem Dunkel einer Hausnische trat ein unbekannter Junge hervor. Strohblonde Haare fielen bis über beide Schultern. Sein Gesicht lag im Schatten eines breitkrempigen Hutes verborgen. Ein langer, dunkelgrüner Mantel umhüllte seinen schlanken Körper. Seine geflochtenen Schuhe schienen aus einer Art Gras zu bestehen, fest und widerstandsfähig und bis unter das Knie geschnürt. Dem Besitzer vermochten sie geräuschlos dahin zu tragen, da seine Schritte auf dem Kies nicht hörbar waren.
»Welchem Wald bist du denn entsprungen?«, lachte Andy abfällig und spuckte kräftig aus.
»Mein Name ist Ulrich«, antwortete der Junge ruhig, »Ulrich von dem Weidenthal.«
»Nie gehört. Wo soll das denn sein?«
»Deine Erinnerungslücken sind erschreckend, Andy!«
Er runzelte die Stirn. In seinem Kopf arbeitete es wie in einem Wespennest. Aber so sehr er auch versuchte, sich zu erinnern, er war dem Jungen, der da ruhig und gelassen vor ihm stand, vorher nie begegnet. Da war er sich sicher.
»HÄNDE WEG VON WILLIAM!«, rief Ulrich und seine Worte durchschnitten die Luft wie Messer so scharf.
Mit großen Augen schaute William zu Ulrich hinüber. Er war völlig überrascht. Woher bloß kannte der fremde Junge seinen Namen?
»Hä, hä! Hände weg von William«, äffte Andy Ulrich nach. »Du beliebst zu scherzen, du Waldschrat!«
Blitzartig griff er hinter sich und zog ein kurzes, mit Dornen bespicktes Schlagholz hervor. Seine beiden Spießgesellen waren ebenfalls in Sekundenschnelle bewaffnet.
William erwartete, dass Ulrich das Weite suchen würde. Ihm fehlte die Fantasie, sich vorzustellen, dass dieser Junge dort – vermutlich nur ein Jahr älter als er selbst – es ganz allein mit der »Wilden Horde« aufnehmen wollte, wenn auch nur mit einem kleinen Teil von ihr.
Mit Gebrüll und wild schwingenden Schlaghölzern stürmten sie los.
Die Bewegung war für das bloße Auge kaum zu erkennen, aber dennoch wurde sie mit einer äußersten Präzision ausgeführt, die William verblüffte: Aus einer Zwille schoss Ulrich einen hell leuchtenden Stein ab, der sich mitten im Flug augenblicklich in drei Teile teilte. Fauchend trafen sie die Angreifer mit einer solchen Wucht, dass diese einige Fuß zurückgeschleudert wurden und auf dem Rücken bewusstlos liegen blieben.
Ulrich verbarg die Zwille wieder unter seinem Mantel und eilte zu William hinüber. »Los, komm, wir haben nicht viel Zeit. Lass uns abhauen«, sagte er und zog William mit sich.
»Sind die tot?«, fragte William etwas außer Atem.
»Nein, sie schlafen, hält aber nur für kurze Zeit.«
»Wie funktioniert das?«
»Mit einem weißen Weidenstein.«
»Mit einem Stein?«
»Einem Weidenstein! Er wächst bei uns unterirdisch in Grotten.«
»Das versteh ich nicht.«
»Die Wurzeln des »Weisen Weidenbaumes« reichen bis tief in den Erdboden. An ihren Enden entstehen die Weidensteine. Manchmal ragen sie bis weit in die Grotten der »Weißen Klippen« hinein, dann ernten wir die Steine«, erzählte Ulrich im Laufschritt ohne ein Anzeichen von Ermüdung.
Bald darauf erreichten sie die Anhöhe. »Ich glaube, die sind wir los«. Ulrich schaute sich um. »Wir brauchen nicht mehr zu rennen. Du bist in Sicherheit!«
William sah sich seinen Retter genauer an. Der mantelartige Umhang, den Ulrich trug, besaß die Fähigkeit, ihn fast unsichtbar erscheinen zu lassen.
Vorhin im Dorf war ihm das nicht so aufgefallen, aber hier, inmitten von Büschen und Sträuchern, verschmolz er mit der grünen Natur.
Geniale Tarnung, dachte William, den hätte ich ebenfalls schon ein paar Mal gebrauchen können - vor allem, wenn man Unholden vom Kaliber eines Andy von Harrington aus dem Weg gehen will.
Ulrichs Schuhe bestanden aus geflochtenen Weidensträuchern. Das Material trug seinen Träger vollkommen lautlos dahin. Wenn Ulrich lief, war kein Geräusch zu vernehmen.
Aber etwas anderes fiel sofort auf: Es waren seine Augen. Die funkelten so grün wie feuchter Tau auf Moos. Und wenn er sprach, umspielten feine Grübchen seine Mundwinkel.
»Ich werde dich jetzt verlassen.« Dabei deutete er auf eine kleine Gruppe von Reitern, die in einiger Entfernung warteten.
Ein dunkelhaariges Mädchen auf einem Schimmel löste sich mit einem reiterlosen, schwarzen Pferd aus der Gruppe und ritt auf sie zu.
»Warte«, rief William, »du darfst jetzt nicht einfach so verschwinden. Ich habe noch viele Fragen!«
»Keine Sorge, wir werden uns bald wiedersehen. Sehr bald sogar!« Ulrich lächelte, übernahm sein Pferd und hielt es am Zügel.
»Außerdem wird immer jemand von uns in deiner Nähe sein«, mischte sich das Mädchen ein. Dann hob sie ihren linken Arm, der in einem dicken Lederhandschuh steckte, gen Himmel und im gleichen Moment war die Luft erfüllt von einem kräftigen Geflatter.
Ein großer Greifvogel stieß herab und setzte sich mit einem schrillen Schrei nieder. »Wow! Eine Königsweihe, ein Rotmilan!«, rief William überrascht.
»Darf ich vorstellen? Das ist Kasper!«, sagte das Mädchen stolz, während sie dem Greifvogel liebevoll über das rötlichbraune Gefieder strich. »… und das ist William«, stellte sie Kasper William vor. »Er ist unser Freund.«
Als ob der Greifvogel die Worte des Falknermädchens verstanden hätte, kreischte er übermütig und schüttelte zur Begrüßung seinen kleinen Kopf hin und her. »Mein Name ist Veda. Ich freue mich, dich endlich kennenzulernen, William.«
Im Unterschied zu Ulrich war Veda zusätzlich mit Pfeil und Bogen bewaffnet und besaß das Antlitz und die Anmut einer stolzen Kriegerin.
Alles um William herum wirkte mit einem Mal so traumähnlich. Veda und Ulrich entstammten aus einer ihm fremdartigen Welt. Trotzdem spürte er unterschwellig eine gewisse Verbundenheit mit ihnen, die er aber nicht richtig zu deuten wusste.
»Wo liegt dieses Weidenthal?«, wollte William wissen und hoffte, somit ein wenig mehr von den beiden zu erfahren.
»Es liegt jenseits der »Weißen Klippen«. Du wirst es erkennen, wenn du es siehst«, sagte Ulrich und schwang sich hoch auf den schwarzen Hengst.
»Es war mir eine Ehre! Ach so, deine Schreibmappe …«
»Was ist damit?«
»Versuch, sie zu öffnen! Und du wirst schon sehen.«
Sie wendeten ihre Pferde. Grüßten ihn und preschten davon.