Geheimnisvolles Gandenthal

Begegnung mit einem Gaukler 

In gespannter Erwartung durchschritt William mit seinem Onkel das Tor zur Domäne. Geschäftiges Treiben erfüllte den Hof. Es duftete nach Backwaren, Mandeln und Schokolade. Händler priesen lautstark ihre Waren feil. Häufig wechselten dabei gute wie schlechte Münzen ihre Besitzer. 
William kannte sich hier aus. Es war nicht sein erster Besuch. Die Gepflogenheiten, die hier herrschten, waren ihm vertraut. Im Laufe der Zeit entwickelte er ein gewisses Gespür, brauchbares von unbrauchbarem zu unterscheiden. Bei den Möbelhändlern brachte er sein ganzes Wissen an den Mann. Er sparte nicht an Kritik, wenn über zu kurz gelagerte Hölzer oder unsauber verarbeitete Zapfenverbindungen gesprochen wurde. 
»Leute, und das soll halten?«, war sein Lieblingsspruch. 
»Aber, klar doch!«, lautete meist die Antwort.
»Nein, statt eines Vollzapfens hätte ich hier lieber einen Blindzapfen gewählt. Ist etwas aufwendiger in der Verarbeitung, aber dafür ist er der Witterung nicht so ausgesetzt.« Dies war unzweifelhaft ein recht hoffnungsfroher Moment, sofern er dabei an seinen Vater dachte. Da hatte dieser ihm echt etwas beigebracht.
Trotzdem ließ es sich Nicholas nicht nehmen, William immer wieder nachdrücklich auf gewisse Gepflogenheiten, die hier herrschten, hinzuweisen. Stets tat er dies mit einer entsprechenden Ernsthaftigkeit und William spielte das Spiel gerne mit. Aber bislang hielt sich Nicholas mit der Belehrung zurück. William wusste nur zu gut, dass seinem Onkel bei dem herrlichen Duft das Wasser im Munde zusammenlief. Er war im Moment noch ein wenig abgelenkt. 
»Ho, ho, ho …«, lachte Onkel Nicholas und rieb sich die Hände. »Das hier ist so richtig nach meinem Geschmack. Der arme Lohmis. Er weiß nicht, was er verpasst. Und mein Lieber, William! Holen wir uns erst etwas zu essen oder kaufen wir dir zuerst die Schreibmappe?« 
»Ich bin für die Mappe!«, sagte William.
»In Ordnung. Lass uns umschauen. Mit ein bisschen Glück werden wir das Passende für dich schon finden. Wirst sehen!«, meinte Nicholas zuversichtlich. Dann räusperte er sich vielsagend und sein Gesicht wurde ernst. William kannte, was jetzt kam. Sein Onkel beugte sich zu ihm hinunter. »Pass aber auf, dass du gute Ware für gute Münzen erhältst. Achte genau auf den Wert der Ware, die dir von den Händlern angeboten wird. Bedenke, dass hinter der Fassade eines freundlichen Händlers ein gemeiner Betrüger stecken kann.« Nicholas richtete sich wieder auf. »So, nun los! Versuchen wir, erfolgreich zu handeln. Na, das wird ein Spaß!« 
Sie stürzten sich ins Gewühl, kamen aber nur mit kleinen Schritten voran. Einige Menschen drängten sich mit schweren Körben und Kisten an ihnen vorüber, um sie draußen auf ihre Fuhrwerke zu verladen. Ein Händler warf händeweise Karamellen in die Menge und freute sich köstlich über den Eifer der kreischenden Kinder, diese zu erhaschen. 
»Onkel Nicholas, schau mal, ein Gaukler!«, rief William laut und steuerte auf einen Tisch zu, an dem ein bunt gekleideter, rundlicher Mann stand, der mit einem Stapel Spielkarten hantierte. 
»Moment, nicht so schnell, mein Jong!« Onkel Nicholas hielt William am Arm zurück. »Vor denen musst du dich besonders in Acht nehmen, die haben richtig gemeine Taschenspielertricks drauf.« 
»Aha, du meinst, danach steht man ohne gute Münzen da?« William grinste, riss sich los, rannte zum Tisch und sprach den Mann an. »Gaukler, sagt, was spielt Ihr heute?« 
»Kümmelblättchen, mein Junge. Willst du es mal versuchen?«, fragte der Gaukler freundlich und machte dabei eine tiefe Verbeugung. 
»Ja, unbedingt!« 
»Nein, kommt gar nicht infrage!«, polterte Onkel Nicholas los, der ebenfalls am Tisch angekommen war. »Ihr wollt den Jong doch nur ausnehmen!« 
Der Gaukler schaute etwas verlegen drein. Dass er seine Kunden beschummeln würde, das hatte ihm bislang niemand so direkt ins Gesicht gesagt.
Nicholas hatte seinen Hut abgenommen, und fächelte sich Luft zu. Seine braun gebrannte Glatze, auf der sich winzige Schweißperlen bildeten, glänzte im Schein der Sonne. 
»Och, bitte nur ein Spiel«, bettelte William und schaute seinen Onkel inständig an. »Na gut«, gab sich dieser geschlagen, »aber nur ein Einziges, hast du verstanden, William?« 
Der Gaukler nahm die Karten auf. Sprudelartig ließ er sie von einer Hand zur anderen springen. Sogleich fächerte er sie mit einer schwungvollen Geste auf dem Tisch aus. Zwei weitere Spielkarten erschienen, mit denen er das aufgefächerte Blatt hin und her wendete. Dann nahm er die Karten in die rechte Hand und ließ sie von oben herab, gleich einem Wasserfall, in seine linke Hand fließen. 
William klatschte Beifall. Diese Fingerfertigkeit beeindruckte ihn.
Aus seinem Rock fischte der Gaukler eine silberne Münze hervor. Sie glänzte hell im Sonnenlicht. Geschickt ließ er sie über seine Finger laufen. Wild tanzend hüpfte das Silberstück von Hand zu Hand, bis er mit Daumen und Zeigefinger schnipste und die Münze verschwand in einem gleißenden Licht. Zum Abschluss der kleinen Vorstellung warf er das Kartenspiel hoch in die Luft. Es machte »Plopp« und die Karten rieselten in einem bunten Konfettiregen nieder. 
William strahlte über das ganze Gesicht und sogar Onkel Nicholas applaudierte. »Wie heißt du, mein Junge?«, wollte der Gaukler wissen. Er schnippte mit seiner rechten Hand und aus dem Nichts segelten drei Karten herab. 
»Ich heiße William. Wie macht Ihr das?« 
»Das ist mein Geheimnis!«, sagte der Gaukler augenzwinkernd. »Pass auf! Ich zeige dir jetzt den Trick mit der »Magischen Sieben«. Du weißt doch, dass die Sieben eine magische Zahl ist, oder?«
William nickte aufgeregt und der Gaukler fuhr fort: »Du siehst hier drei Karten: Links die »Grün Sieben«, in der Mitte »Herz Sieben« und rechts die »Eichel Sieben«. Merk dir genau, wohin ich die »Herz Sieben« lege, denn die gilt es wiederzufinden. Dann hast du gewonnen.« 
Der Gaukler zeigte William die Karten ein- oder zweimal, jonglierte sie geschickt zwischen Daumen und Mittelfinger und ließ sie dann mit einer schnellen Bewegung verdeckt auf den Tisch gleiten. William versuchte, sich auf die Karten zu konzentrieren. Die »Herz Sieben«, wo war die »Herz Sieben« geblieben? Verdammt! Zu allem Überfluss vertauschte der Gaukler die Plätze der Karten untereinander. Dann schaute er hoch. »Sage mir, wo liegt die »Herz Sieben«?« 
»Mal sehen ...«, überlegte William und tippte mit dem Finger auf die mittlere Karte. »Dann schau nach, ob du mit deiner Wahl richtig liegst.« Langsam drehte er die Karte herum und ... »Hurra! Ein Volltreffer!« 
Beifall brandete auf. Die beiden sahen sich erstaunt um. Eine neugierige Menge hatte sich mittlerweile hinter ihnen versammelt, die gespannt auf das wartete, was immer an dieser Stelle folgte: Die Fortsetzung des Spiels. 
»Du hast gewonnen, William! Das hast du prima gemacht!«, sagte der Gaukler. »Aber jetzt legen wir einen drauf. Wir erhöhen die Spannung. Wenn du wieder gewinnst, erhältst du als Belohnung eine gute Münze.« Er warf ein Geldstück auf den Tisch. 
»Gewinne ich, musst du mir etwas von dir geben. Was hast du anzubieten?« 
»Nichts, er wird Euch nichts anbieten können!« Nicholas Faust knallte auf den Tisch, dass es schepperte. Er sah den Gaukler scharf an. »Wir hatten ein einziges Spiel abgemacht. Schluss jetzt, William hat gewonnen!«
Die Leute murrten, einige buhten sogar. Dabei rückten sie gefährlich nahe an den Tisch heran. Ein unangenehmes Gefühl von Ausweglosigkeit überkam sie. Die Stimmung kippte merklich. 
»Also gut«, brummte Nicholas, griff in seine Manteltasche und warf eine Nordlandmünze auf den Tisch. »William besitzt keine Münzen. Ich werde das Spiel fortsetzen. Ihr seid doch einverstanden, oder?« Onkel Nicholas zog die linke Augenbraue hoch und musterte den Gaukler mit festem Blick. 
»Aber, brauchen wir die Münze nicht für die Schreibmappe?«, fragte William besorgt. »Ja!«, und zum Gaukler gewandt: »Fang an!« 
Der nickte kurz und das Raunen der Leute wich der Stille. Alle Blicke waren auf den Gaukler gerichtet. Mit einer ausholenden Geste wirbelte er die Karten durch die Luft, ließ sie wieder auf den Tisch fallen und legte sie verdeckt ab. 
Nicholas schloss die Augen. Seine Hand schwebte dicht über die Karten hinweg. 
Für einen Moment gewahrte William, wie Schwingungen eines unsichtbaren Kraftfeldes von seinem Onkel ausgingen. Kaum spürbar zog ein feiner Schauer über seine Unterarme. Dann war der Spuk vorbei. 
Nicholas deckte die rechts außen liegende Karte auf. »Herz Sieben«! Wow! Wieder ein Volltreffer! 
William stieß einen tiefen Seufzer der Erleichterung aus. 
»Die gehören jetzt wohl mir!« Nicholas nahm beide Münzen vom Tisch und steckte sie in die Manteltasche. »Komm, William, jetzt kaufen wir dir eine besonders schöne Schreibmappe«, sagte er und ließ den verdutzt dreinschauenden Gaukler einfach stehen. 
Nicholas hatte eine perfekte Vorstellung abgegeben und alle waren auf ihre Kosten gekommen. Die Menge zerstreute sich. 
»So, jetzt haben sie was zu erzählen.« Nicholas grinste. 
»Du hast genau gewusst, wo die richtige Karte lag, oder?«, fragte William.
»Was meinst Du? Habe ich es gewusst?« 
Die Antwort kam zögerlich. »Nun, ich denke schon.« 
»Klar, ich wusste genau, wo der Gaukler die Karte hinlegen würde.« 
»Du kennst den Trick, stimmts? Bringst du ihn mir bei?« 
»Nein, Will.« Onkel Nicholas blieb stehen. »Es ist nicht rechtens, einem Kind Taschenspielertricks beizubringen.« 
»Aber!« 
»Pst!« Onkel Nicholas legte den Zeigefinger auf den Mund. »Jetzt ist aber Schluss«, sagte er bestimmend liebevoll. »Wir kaufen dir zuerst die Mappe – und dann muss ich endlich etwas essen.«

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