Geheimnisvolles Gandenthal

Der Gefangene vom Erlengrund

Das unaufhaltsame Trommeln schwerer Regentropfen weckte Lohmis aus einem tiefen, traumlosen Schlaf. Instinktiv wischte er sich über die brennende Schläfe. Das Pochen in seinem Kopf hatte zwar deutlich nachgelassen, aber bei Berührung der Wunde durchfuhr ihn der Schmerz wie ein Blitz. Der verkrustete Dreck an seinen Händen riss die Wunde wieder auf. Sie fing leicht an zu bluten. Lohmis verzog das Gesicht zu einer Grimasse. Er versuchte, sich nicht zu rühren. Es kam ihm wie eine kleine Ewigkeit vor, bis der Schmerz endlich nachließ.
Erschöpft lehnte er sich mit dem Rücken gegen die Hüttenwand und horchte auf verdächtige Geräusche in seiner Umgebung. Aber es gelang ihm nicht. Ständig hatte er einen anderen Laut im Kopf: das Klirren einer zerberstenden Fensterscheibe und das Zischen eines heranfliegenden Pfeils. Die Bilder der Erinnerung schmerzten. In seinem Kopf fing es wieder an zu pochen. Aber eine Erklärung, wie er in diese elende und nach Fäulnis riechende Hütte gelangt war, fehlte ihm gänzlich. Da klaffte eine totale Gedächtnislücke. Offensichtlich hatten sie ihn betäubt. 
Er erinnerte sich an drei Männer in schwarzer Kleidung. Jemand hatte »Lust auf eine Wanderung« oder so etwas Ähnliches gesagt und die Worte »Schließer« oder »verdammter Schließer« waren gefallen. In seinem Kopf spukten Satzfetzen wie »Braten am Spieß« oder »über dem Feuer braten« herum. Letzteres so hoffte er, galt nicht ihm persönlich. Oder vielleicht doch?
Gewaltsam hatten sie ihn an den Oberarmen gepackt und gegen seinen Willen in den Wald verschleppt. Einer von den Burschen hatte ihm ein nasses, kühles Tuch ins Gesicht gedrückt. Woraufhin ihm jede Orientierung fehlte.
Beim Versuch, auf die Beine zu kommen, zuckte Lohmis erschrocken zusammen. Er stieß sich den Kopf an einem Balken. Die Decke der Hütte war an dieser Stelle zu niedrig, um einem ausgewachsenen Mann genügend Standhöhe zu gewähren. Erst in der Mitte öffnete sich der kleine Raum zu einem Spitzdach. 
Spärliches Abendlicht fiel durch eine tellergroße Öffnung in der Decke und beleuchtete den Hüttenboden. Regentropfen rieselten hernieder, um sich kurz vor ihrem Auftreffen auf dem Erdboden, wie von Geisterhand aufzulösen. Fasziniert von dem ungewöhnlichen Schauspiel streckte Lohmis die Hand aus. Seine Zunge und sein Gaumen fühlten sich trocken und rau wie Sandpapier an. Wie ein Verdurstender in der Wüste versuchte er verzweifelt, das kühle Nass zu erhaschen, doch die Regentropfen wichen ihm stets aus. Wie verrückt hüpfte Lohmis in der Hütte hin und her. Seine Gier nach Flüssigkeit wuchs mit jeder Sekunde, und als das Nieseln verebbte, schob sich wie aus Hohn die goldene Sichel des Mondes über die Deckenöffnung. Lohmis sank mit einem tiefen Seufzer entmutigt zu Boden.
Er erschrak. Deutlich drangen Stimmen von draußen herein. Kräftige Hände rüttelten an der Tür. Hektisch schaute er sich in der dämmrigen Hütte nach einem geeigneten Versteck um; aber da war nichts. Auf allen vieren kroch er zurück in die dunkle Nische und stellte sich schlafend. Knirschend wurde ein Holzbalken zur Seite verschoben, knallte dumpf auf den Boden und die Hüttentür sprang laut auf. Lohmis rührte sich nicht, obwohl jeder vorhandene Funken Verstand ihm sagte, dass ein Mensch, läge er in den tiefsten Träumen, bei diesem Krach unweigerlich senkrecht aufschrecken würde.
Aber er riss sich zusammen. Kein einziges Zucken seines Körpers war zu erkennen, obwohl sein Herz ihm bis zum Halse schlug.
»PLATSCH ...!«
Eisiges Wasser klatschte Lohmis ins Gesicht und er sprang wie von einer Tarantel gebissen, wild prustend und nach Luft schnappend in die Höhe. Und da waren sie wieder, diese hart zupackenden Griffe an seinen Oberarmen, die keine Gegenwehr zuließen. Dann dieser ekelhafte Geruch nach Verwesung, der die Männer wie eine unsichtbare Wolke umgab. 
»Ein Schweinestall riecht dagegen angenehm«, dachte Lohmis und angeekelt verzog er das Gesicht. Aber weiter kam er mit seinen Gedanken nicht. Die Männer trugen ihn im Laufschritt aus der Hütte, rutschten einen Abhang hinab, geradewegs auf ein Lagerfeuer zu.
Eine Gruppe zwielichtiger Gestalten hatte sich um das Feuer versammelt. Ihre schmalen Silhouetten warfen lange, gespenstische Schatten an eine hoch aufragende Mauer. Alles wirkte so unecht und gleichzeitig gefährlich. Er erinnerte sich wieder an die gesprochenen Worte »über dem Feuer braten« und »Braten am Spieß«. Lohmis sah deutlich sein Ende nahen. 
»Setzt den Schließer dort ab!«, befahl eine seltsam kindliche Stimme aus der Dunkelheit und augenblicklich wurde er fallen gelassen. Unsanft landete er auf seinem Hinterteil, dass es schmerzte.
»Gebt ihm was zu trinken!«, ordnete die Stimme an. Ein Becher mit frischem Wasser wurde ihm gereicht. Gierig stürzte er den Trunk in einem Zug hinunter. 
»Mehr, mehr ...«, krächzte er. 
»Nein! Das reicht! Weg mit dem Becher!«, wies die kindliche Stimme seine Bitte barsch zurück. Ein Mann trat heran und schlug ihm das Gefäß aus der Hand.
»Gut so! Und jetzt legt ihm eine Decke um. Wir wollen ja nicht, dass sich unser Gast erkältet!«, befahl die Kind-Stimme mit einem spöttischen Unterton, die Lohmis jetzt deutlich dichter an seinem Ohr vernahm. Die Person hatte ihren Platz verlassen und sich Lohmis genähert. Ein dunkler Basston mischte sich unter die hohe Tonlage, was er als zutiefst irritierend und beängstigend zugleich empfand. Voll Argwohn schaute er sich um. Etwas Weiches windete sich an seiner Schulter entlang, dass sofort seinen gesamten Oberkörper umschlang. Er zuckte zusammen. 
»Ihr braucht Euch doch nicht vor einer Decke zu fürchten!«
Die Stimme befand sich jetzt in seiner unmittelbaren Nähe und wies überhaupt keine Spur von Kindlichkeit mehr auf. Er wischte sich mit dem Stoff die letzten Wassertropfen vom Kinn und hüllte sich tiefer in das Tuch ein. In diesem Moment wurde ihm gewahr, dass er am ganzen Körper fror und zitterte und seine Zähne wie ein loses Gebiss klapperten.
»Wie ist Euer Name?«, hauchte es direkt an seinem Ohr in einem tiefen, sonoren Ton. Der Klang der Stimme versprach auf einmal Vertrauen und passte so gar nicht mehr in diese unheimliche Umgebung.
»Mein … Name … ist … Lohmis …«, kam es klappernd aus seinem Mund. »Lohmis … van … Botterbloom ...«
»Nun, Lohmis, ich darf doch Lohmis zu Euch sagen?«
»Ja …«
»Gut, das macht es einfacher. Ich sehe schon, wir werden uns prächtig verstehen.«
Langsam, nur ganz langsam wich sein Frieren einem Frösteln.
»Warum? Ich kenne Euch ja überhaupt nicht!« Lohmis spähte in die flackernde Dunkelheit. Aber außer den Männern, die regungslos um das Lagerfeuer standen, war niemand zu erkennen.
»Ich kann Euch nicht sehen. Wo seid Ihr?«, fragte er und blinzelte in die Nacht hinein.
»Hier, Lohmis, ich bin hier«, kam es von links und Lohmis warf seinen Kopf herum.
»Wo? Ich kann Euch nicht ausmachen!«
»Jetzt bin ich hier«, kam es von rechts.
Lohmis drehte seinen Kopf hin und her.
»Was soll das? Ich bin zu erschöpft für solche Art Späße.«
»Lohmis!«, sprach die Stimme leise. »Ihr könnt mich nicht sehen, doch ich bin überall. Im Augenblick könnt ihr mich nur hören.«
»Was wollt Ihr von mir?«, bellte Lohmis los und versuchte aufzustehen. 
Entsetzt schrie er auf. Schlagartig spannte sich die Decke, veränderte ihre ursprüngliche Form. Mit der Kraft vieler Arme wurde Lohmis zurückgehalten.
»Beruhigt Euch! Solange Ihr meine Anweisungen befolgt, wird Euch nichts geschehen!«
Was für ein Albtraum, dachte Lohmis, der es nicht glauben konnte, dass er von einer Decke in Schach gehalten wurde.
»Nein, das ist kein Traum!«, hörte er die Stimme flüstern. »Ich bin die Wirklichkeit!«
»Wie ist das möglich? Wie könnt Ihr meine Gedanken ...?« Ein Schauer aus tausend Nadelstichen lief über seinen Körper. »Das ist Hexerei!«, rief Lohmis.
»Nennt es, wie Ihr wollt. Nennt es meinetwegen Hexerei oder gar schwarze Magie. All diese Dinge dienen nur dem einen Zweck, meine Kraft zurückzugewinnen und mich zu alter Macht emporzuschwingen. Aber noch reicht die Kraft nicht aus, noch nicht. Der Tag wird kommen und Ihr, Lohmis van Botterbloom, werdet mir dabei helfen. HABT IHR DAS VERSTANDEN?«
Mit diesen Worten zog sich die Decke immer enger um den Hals von Lohmis zusammen und schnürte ihm fast die Kehle zu. Drohend presste die Stimme hervor: »Ich fragte Euch, ob Ihr meine Worte verstanden habt?«
Er röchelte, schnappte nach Luft und in seiner Not nickte er heftig.
»Das ist gut, sogar ausgesprochen gut!« Die Stimme schien zufrieden zu lächeln. »Ihr seht, wir verstehen uns! Jetzt ruht Euch ein wenig aus, damit Ihr wieder zu Kräften kommt. Man bringe Euch Speis und Trank und später werden wir dann unsere kleine Unterhaltung fortsetzen.«
Der Druck ließ nach, und die Decke glitt wie eine riesige, schwarze Schlange von seinem Körper herab und verschwand in der Dunkelheit.

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