Geheimnisvolles Gandenthal

Flüche und Gedanken 

Frühlingsanfang im Jahre 104, nach dem Zerfall der Alten Welt ...

Zu diesem Zeitpunkt lagen die zukünftigen Geschehnisse für viele der Bewohner noch in weiter Ferne. Durch gewisse Umstände, die dem Hochmut einzelner Leute geschuldet waren, wurden Meldungen und Aufzeichnungen nicht weitergereicht. Nur wenigen war es gegeben, die unheilvollen Vorgänge im Lande richtig zu deuten. 
Für die meisten Menschen des Gandenthals begann der Morgen aber wie immer: Mit dem Melken ihrer Kühe, mit Backen und Kochen und mit vielen anderen kleinen und großen Beschäftigungen, die den Tag ein wenig verschönern sollten.
Einzig für die Kinder der Grafschaft war dieser Sonntag einer der besten Tage des Jahres: Es war der Beginn der Frühlingsferien! 

An diesem Morgen wurde William von einem sanften Schnurren geweckt. Kurz darauf sprang ihm ein schwarz-weißes Fellknäuel mitten ins Gesicht. 
Prustend wischte er sich ein kitzeliges Gefühl und ein paar feuchte Haare von der Nase. Halb schlaftrunken packte er den übermütigen Kater und legte ihn zu sich auf die Bettdecke. Schlaumeier streckte sich ausgiebig. Gähnend rollte er sich auf den Rücken und kuschelte sich tief in die Kissen. 
»Du kleiner Rabatzki!«, flüsterte William liebevoll und strich ihm über das flauschig weiche Fell. »Hast mich ganz schön erschreckt!« 
Der kleine Kater schnurrte vor sich hin, wurde leiser und leiser, bis das Schnurren bald darauf ganz verstummte. Schlaui war eingeschlafen. 

Ein Weilchen später, nachdem die ersten Sonnenstrahlen die Dachkammer erwärmten, kroch William unter der Bettdecke hervor, schlurfte zum Fenster und stieß es auf. Tief sog er die würzige Frühlingsluft in seine Lungen ein. Die endlose Weite des Gandenthals mit ihren lieblichen, waldreichen Höhenzügen präsentierte sich in einem farbenfrohen Spiel voller Licht und Wärme. Was für ein herrlicher Tag!
»Wie ist das möglich? Schon zwanzig Minuten über der Zeit? Mist! Das gibt Ärger!« Beim Blick auf seinen Wecker stieß er einen Fluch aus und schickte gleich zwei weitere hinterher.
Ja, fluchen, das konnte er. Er konnte so fürchterlich fluchen, dass sich die alten Geister der Burg vor Scham zähneklappernd in die tiefsten Tiefen ihrer stinkenden Grüfte verzogen. Aber heute brachte das Fluchen ihm keinen Spaß, den er sonst immer dabei verspürte. Nicht weil ihm einfiel, dass Sonntag war und er es unterlassen sollte, diesen geheiligten Tag mit gemeinen Flüchen zu beginnen. Nein, es war die simple Erkenntnis, dass er wieder einmal zu spät dran war, und das ließ ihn alle guten Vorsätze über das Fluchen vergessen. 
William raufte sich die Haare. Er wüsste für sein Leben gern, warum dieser verflixte Wecker nicht funktionierte, gerade dann, wenn er ihn so dringend brauchte. 
Etwas war doch mächtig faul an der ganzen Sache: Denn unter der Woche, zur Schulzeit, gab es mit dem blöden Ding nie Scherereien. Er gab dem Wecker einen kräftigen Stoß, der laut scheppernd in der Ecke landete.
Seufzend ließ er sich auf die Bettkante nieder und eine böse Ahnung stieg in ihm auf: Bestimmt steckte sein Vater dahinter! Nur er kam dafür infrage! 
Und je länger er sich darüber das Hirn zermarterte, umso mehr wandelte sich seine anfänglich gute Laune in blanke Empörung. Sein Blick fiel auf seine rauen, schwieligen Hände. Da waren die Beweise! Und es waren handfeste, schmerzende Beweise! Seit dem Unglück in der Schreinerei war sein Vater unausstehlich geworden. Und dann diese unsägliche Hausregel: Sonntags um sieben Uhr Frühstück! Bah! Wie ungemütlich! Eine Verspätung um lächerliche zehn Minuten bedeutete schon ausgiebige Putzarbeit in der Küche. Weitere zehn wurden mit Holzhacken im Hof bestraft. William stellte sich vor, wie sein Vater unten am gedeckten Kaffeetisch saß und neue Ränkespiele austüftelte.
»Na, dann ist das ja heute mein Glückstag«, murmelte William. »Es ist schon kurz vor halb acht. Jetzt wird der Burgrasen wieder mal daran glauben müssen.« Er dachte mit Schaudern an die schwere Sense, die unten im Hof auf ihn wartete.
William ließ sich rücklings aufs Bett fallen und starrte an die Balkendecke. Er überlegte, ob es für ihn nicht besser wäre, einfach abzuhauen. Jetzt gleich durchzubrennen und dabei keinen einzigen Moment an eine Rückkehr zu verschwenden. 
Durch seine Gedankengänge geisterte ein Name: Andy! 
Andy von Harrington war ein älterer Junge aus dem »Thal der Sieben Hügel«, der sich mit einigen Freunden aufgemacht hatte, sein Glück im fernen Südland zu suchen. Bis heute galt er als der brandgefährlichste Anführer der »Wilden Horde«, die William bis auf den Tod fürchtete, aber insgeheim bewunderte. Wie Andy wollte er sein, von allen gefürchtet und doch beneidet.
Aber wahrscheinlich würde sein Verschwinden hier niemanden interessieren. Vor allem seinen kaltherzigen Vater nicht. William musterte den kleinen Kater und fragte sich, ob Schlaumeier ihn vermissen würde? Vermutlich nicht! Er war immer nur auf sein warmes, weiches Bett aus. Kein Wunder – das Bett gehörte ihm ja beinahe schon. Die weißen Pfoten des Stubentigers zuckten im Schlaf. 
Aber da gab es noch Onkel Nicholas, seinen einzigen Freund, seinen Vertrauten. Der Gedanke daran, auch ihn zu verlassen, gefiel ihm gar nicht. Verzwickte Situation! Nachdenklich streifte er die Hose über und knallte mit den Hosenträgern. Nein, es war zu spät, und ohne eine Handvoll Nordlandmünzen wäre sein Vorhaben sowieso zum Scheitern verurteilt. Aber aufgeschoben ist nicht aufgehoben! 
Aus einem Krug goss er Wasser in eine Keramikschüssel. Prustend schmiss er sich einige Hände voll kaltem Nass ins Gesicht. Der Einfachheit halber wischte er sich die Tropfen gleich mit dem Hemdsärmel ab.
Schwungvoll stieß er seine Zimmertür auf, sodass sie wie ein zurückschnellendes Pendel gleich hinter ihm wieder ins Schloss krachte. Akrobatisch rutschte er bäuchlings auf dem breiten Treppengeländer zur Küche hinunter, wo sein Vater bereits ungeduldig mit dem Frühstück auf ihn wartete.

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