
Reise in die Vergangenheit
(Epilog)
Die »Hohe Halle« wirkte furchteinflößend. Die drei abzweigenden Gänge lagen in völliger Finsternis. Bis hier hatte sich William nie vorgewagt. Gruselige Schauer trieben ihm schon Angstschweiß über den Rücken, wenn er nur an den Austausch der Kerzen an jedem Freitagnachmittag dachte. Und an einem Freitag, dem Dreizehnten, schaffte es nicht einmal sein gestrenger Vater, ihn nach unten zu scheuchen. Diese Aufgabe übernahmen dann jedes Mal Onkel Nicholas und Lohmis selbst.
Etwas stimmte hier unten nicht. In den Nischen der »Hohen Halle« waren seltsam anmutende Göttergestalten in Stein gemeißelt auf schwarzen Granitsockeln aufgestellt. Bei genauerer Betrachtung symbolisierten – vielmehr trugen sie – die vier Elemente Erde, Wasser, Feuer und Luft auf ihren Rücken. Die Ausgestaltung der Kuppel des Kreuzgangs wirkte beeindruckend: Mosaike, verziert mit tiefgrün funkelnden Smaragden und purpurroten Amethysten, schmückten die gewölbte Decke. Kryptische, mit Blattgold veredelte Zeichen und Formen zogen sich kettenartig kreuz und quer an den Wänden entlang.
»War das damals alles schon da?«, fragte William Ulrich, der sich eine der Skulpturen näher besah.
»Nein! Schon komisch, oder?«
»Ja! Seltsame Sache. Was hat das alles zu bedeuten?«
»Da hat jemand für schlechte Zeiten gespart«, juxte Ejnar.
»Vielleicht ist dieser jemand ganz in unserer Nähe. Womöglich beobachtet er uns.« Williams Körpersprache zeigte eine gewisse Unruhe. »Wir sollten schleunigst von hier verschwinden!«
»Dann wollen wir doch mal sehen, welcher Gang der Richtige ist«, sagte Ulrich.
Er ging in die Mitte des Kreuzganges und öffnete seine Hand mit drei roten Weidensteinen darin.
»Kommt alle zu mir und schaut, was gleich passieren wird«, forderte er seine Freunde auf. »Die Steine werden uns sicher den Weg in die Bibliothek weisen.«
Mit vollem Schwung warf er die drei Weidensteine in Richtung der Eingänge. Die Welt um sie herum schien für einen Augenblick den Atem anzuhalten. Abrupt verlangsamten sich ihre Körperbewegungen. Wie in Zeitlupe glich alles einem schwerelosen Traum. Die drei roten Weidensteine tanzten vor ihren Augen wie Libellen im Sonnenlicht. Flogen summend mal hier-, mal dorthin. Feine Stimmchen schienen sich untereinander abzusprechen, wisperten wie Wind im Espenlaub. Am Ende formierten sie sich zu einem Kreis, den sie immer enger zogen. Schlagartig entfachte sich gleißendes Licht aus ihrer Mitte und strahlte in den mittleren Gang. Sofort schossen die Steine hinterher. Das helle Licht verblasste und man sah wieder ihren angenehmen, rötlichen Schein.
»Das ist er!«, rief Ulrich. »Jedes Mal ist es ein anderer Gang. Dann los! Lasst uns gehen! Aber seid vorsichtig und haltet eure Waffen bereit.«
Die drei Weidensteine flogen und leuchteten voraus. Mit gezückten Zwillen folgten ihnen die Weidenreiter. Der Gang ähnelte baulich dem der anderen Gewölbegänge. Er jedoch verengte sich zusehends zu einer niedrigen Röhre, sodass sie gezwungen waren, hintereinander und gebückt zu laufen. Nach einiger Zeit gelangten sie zu einer Treppe, die sich wendelförmig in die Tiefe wand. Feuchtes Moos schimmerte von den Wänden und in der Ferne vernahm man das leise Plätschern eines unterirdischen Baches.
»Wir sind da!«, sagte William und trat auf den obersten Treppenabsatz. »Das ist die Treppe und da hinter ist unsere Küche. Ich gehe voran!«
Vorsichtig begannen sie den Abstieg und erreichten nach wenigen Minuten wohlbehalten ihr Ziel. William kam der Abstieg diesmal deutlich kürzer vor.
Unten entzündete sich wie von Geisterhand eine Fackel und erhellte den Vorraum zur Bibliothek.
»Jetzt werden wir gleich wissen, Will, ob die »Rutsche des Lebens« uns etwas vorgegaukelt hat oder nicht«, sagte Veda und spannte ihre Zwille durch. Dann öffnete Ulrich die breite Flügeltür, und die sechs Freunde betraten die Bibliothek mit vorgehaltenen, geladenen Zwillen. Die drei Weidensteine folgten ihnen in Augenhöhe.
Auf den ersten Blick war alles so wie immer. Das Feuer loderte im Kamin, die Fackeln brannten fast flackerfrei an den Wänden und die zwölf Schilde flankierten wie eh und je die mit Büchern und Dokumenten vollgestopften Regale. Nur der junge Mann, der lächelnd auf die kleine Gruppe zukam, sah nicht wie Onkel Nicholas aus.
»Hallo!«, sagte er. »Ich bin Julien! Eigentlich habe ich Sir Rose erwartet. Aber ich freue mich über jeden Besuch.«
Hinter ihnen fiel die Tür lautlos ins Schloss.
Ein schlanker, fast durchsichtiger Schatten huschte durch den Vorraum und ergriff eine der Fackeln. Licht fiel auf hagere, faltige Gesichtszüge, die das Leben von Generationen widerspiegelten. Doch ein zufriedenes Lächeln umspielte die Mundwinkel. Dann schwebte Marlon Marcoon hinab in die Tiefe, dorthin, wo die Geister und Dämonen des »Tiefen Bärengrunds« lauerten, und noch viel weiter, dorthin, wo ihm niemand mehr folgen konnte - zurück in seine Welt voller Fantasie und Magie.
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Gandenthal – Am Stillen See
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Erscheinungstermin: Winter/Frühjahr 2025/26