Geheimnisvolles Gandenthal

Alte Geschichten

»Wo die anderen nur bleiben?« Graf Herdan lief auf und ab. Er sah sich um. Sein Blick fiel auf die Büsche, die kreisförmig den Lagerplatz umgrenzten. Doch bislang regte sich nichts. Kein lautes Rufen, kein Knacken der Äste, keine schweren Schritte deuteten auf die erwartete Ankunft weiterer Grafen hin.
»Wir werden hier doch nicht die Einzigen bleiben, oder?«
»Vielleicht haben die anderen die Botschaft nicht erhalten«, mutmaßte Eligius. Er kniete am Feuer und warf einige trockene Zweige hinein. Knisternd züngelten die Flammen empor. Der Platz erhellte sich.
»Natürlich haben sie das!«, gab Herdan unwirsch zurück.
»Du magst mich nicht, stimmt`s?«
Die Antwort kam prompt. »Stimmt, nicht besonders, wie du dir sicherlich denken kannst.« Herdan verschränkte seine Arme und baute sich vor Eligius auf.
»Und das alles nur wegen einer alten Frauengeschichte?« 
»Sie wollte meine Frau werden!«, bellte Herdan.
Eligius blieb ruhig. »Nein, Herdan, sie sollte deine Frau werden. Das ist ein Unterschied. Du hattest sie zu dieser Heirat gezwungen. Nur dann hat sie sich klugerweise im letzten Moment für mich entschieden. Dein Pech!«
Herdan stieß mit dem Stiefel zu. Kleine Moosstücke wirbelten auf und Eligius fiel nach hinten um.
»Ich habe sie geliebt!« Herdan fasste Eligius am Kragen und zog ihn zu sich hoch.
»Du weißt doch überhaupt nicht, was Liebe bedeutet!«
»So meinst du?« Herdans Gesicht bekam rote Flecken. »Hört ihr das?«, mischte sich Vitus ein.
»Jetzt nicht, ich bin beschäftigt. Ich verpasse diesem Grottenthaler eine Abreibung«, und Herdans Faust krachte an Eligius´ Kinn. Vitus sprang hinzu, ergriff energisch Herdans schwingenden Arm, der zum zweiten Schlag ausholte, und warf den aufgebrachten Kämpfer zu Boden.
»Pst, seid endlich mal still, ihr beiden. Nehmt Euch gefälligst zusammen. Das ist ja wie bei Kleinkindern, obwohl ich davon nichts verstehe.« Vitus lockerte den Griff. »Hört ihr das nicht?«
»Was?« Eligius rieb sich sein Kinn.
»Ja, du hast recht, Vitus, jetzt höre ich es auch. Da singt jemand«, flüsterte Herdan.
»Hier unten im Bärengrund, lächerlich. Ihr beide habt schon Wahnvorstellungen!«, sagte Eligius und sprang auf die Beine. Im nächsten Augenblick trat eine singende, zierliche Gestalt aus den Büschen heraus. Ihr Gesang brach abrupt ab. Für einen Moment starrten sich alle vier entgeistert an. Dann wirbelte sie herum und ergriff die Flucht. Ohne zu zögern, schnellte Herdan hoch, stieß Eligius zur Seite und rannte wie ein wild gewordener Stier hinterher.
Stille …
Vitus und Eligius sahen sich an. Keiner von beiden wagte, zu atmen. Eine Ewigkeit verging.
Zweige zerteilten sich und Graf Herdan brach hinter ihnen aus dem Gebüsch hervor. Auf seinen Schultern trug er einen zappelnden Körper. In der Hand hielt er einen länglichen, bauchigen Gegenstand, einen Rucksack und einen Stock. Er schwitzte. Laut fluchend lud er seine Ladung ab.
»Ein Mädchen! Sie hat mich gebissen!«, brüllte er wütend und deutete mit einer Kopfbewegung auf seinen rechten Arm. Das Hemd war an der Stelle zerfetzt und mit einem Blutrinnsal getränkt. Trotzdem hielt er seine Beute weiterhin fest am Handgelenk umklammert.
»Lasst mich sofort los!«, schrie das Mädchen, holte aus und verpasste Herdan eine gewaltige Ohrfeige.
Eligius brach in ein schallendes Gelächter aus.
Herdan drehte sich wütend herum und versuchte, Eligius mit einem kräftigen Fußtritt zu treffen. Geschickt wie eine Katze, wich dieser dem Tritt aus.
»Patsch!«
Da kam die zweite Ohrfeige geflogen.
Herdan verlor das Gleichgewicht und schlug lang hin. Das Mädchen riss sich von ihm los und ergriff ihren Stock. In diesem Augenblick legten sich von hinten zwei Arme um ihren schmalen Körper. Ruckartig wurde sie angehoben und rückwärts gezogen. Ihre Beine baumelten in der Luft.
»Beruhigt Euch, bitte!«, flüsterte eine Stimme. »Es wird Euch nichts geschehen.«
»Und das soll ich Euch glauben?«, erwiderte das Mädchen und wehrte sich heftig.
»Ja, weil ich es Euch sage, im Namen Gottes.«
Sofort hörte das Mädchen auf zu zappeln. Vitus lockerte etwas den Griff und ihre Füße berührten wieder den Boden.
Herdan kam auf die Beine und jagte den lachenden Eligius um das Feuer herum.
»Vitus, lass sie bloß nicht los!«, rief Herdan. Sein Gesicht war feuerrot. Er kochte vor Wut und Anstrengung. »Wenn ich mit dem Grottenthaler hier fertig bin, bekommt sie von mir auch noch Bimse!«
»Die beiden dort sind wie kleine Kinder«, sagte Vitus, »aber sie werden Euch nichts antun.«
Herdan hatte sich endlich Eligius geschnappt und rollte mit ihm über das weiche Moos.
»Ich lasse Euch jetzt los. Versprecht Ihr mir, nicht wieder davon zu rennen?«
Das Mädchen nickte und Vitus entließ sie aus seiner Umklammerung.
Im Augenwinkel erkannte der Mönch, wie Herdan seinen Widersacher packte, ihn hochstemmte und mit einem lauten Schrei verschwand Graf Eligius in den Büschen. Herdan riss triumphierend seine Faust nach oben, wischte sich symbolisch über die Schulter, so als hätte er sich eben von einer lästigen Fliege befreit und stampfte grimmig auf Vitus und das Mädchen zu.
»Stellt Euch lieber hinter mich, so kann ich Euch besser Graf Herdan vom Leibe halten.«
Das Mädchen stutzte und sah Vitus überrascht an.
»Graf Herdan? Graf Herdan zu Weidenfels?«
»Ja, wieso, kennt Ihr ihn?«, fragte Vitus leicht irritiert, nicht zuletzt wegen des Leuchtens ihrer hellblauen Augen, die ihn an einen klaren, frischen See erinnerten.
»Und ob! Nur habe ich ihn eben nicht sofort erkannt.«
Das Mädchen löste sich von Vitus, trat einen beherzten Schritt vor und schwang dabei ihren Stock wie eine gefährliche Waffe vor ihrem Körper hin und her. Mit einer blitzschnellen Bewegung hebelte sie den heranstürmenden Grafen von den Beinen. Herdan schlug auf dem Boden auf. Das Moos bebte. Das Mädchen stellte sich über ihn, setzte einen Fuß auf seine Brust und hielt den Stock vor sein Gesicht. Es klackte leise. Ein blitzender Dolch sprang aus dem Schaft des Stockes hervor, und näherte sich gefährlich Herdans Halsschlagader.
»Du Lump, du hast uns im Stich gelassen!« Ihre Stimme war so scharf wie die silbrige Klinge ihrer geheimnisvollen Waffe.
»... Lilian? Hallo, Lilian!«, stotterte Herdan und schielte auf den Dolch an seinem Hals. »Hab dich nicht gleich erkannt. Bist groß geworden, Töchterchen!« 

Nächstes Kapitel

Buch kaufen