
Auf Messers Schneide
Die Situation schien verzwickt. Lilians Augen waren zu schmalen Schlitzen verengt.
»Wenn du dich nur eine Winzigkeit rührst, schwöre ich dir, befördert dich meine Klinge genau dorthin, wofür dieser Stock einst geschaffen wurde!«
»Doch nicht dahin, wo ich glaube?«, witzelte Herdan.
Lilian verzog angewidert ihr Gesicht und schabte mit der Klinge an Herdans Bart entlang.
»Fühlt sich doch recht gut an, nicht wahr? NICHT WAHR? Du wolltest uns im Dreck sehen! Na, wie liegt es sich jetzt dort?«
»Ich liege auf Moos, Lilian.«
»HALT DEN MUND, Herdan zu Weidenfels!«
»Lilian, Lilian, hör zu!« Vitus Stimme schob sich vorsichtig wie ein schlichtender Keil zwischen die beiden Widersacher. In sicherem Abstand zu Lilian versuchte er, die Situation zu entspannen.
»Du solltest dich beruhigen. Was einst geschehen ist, kann niemand von uns mehr rückgängig machen. Bedenke bei dem, was du vor hast, er ist immer noch dein Vater!«
In Lilians Kopf arbeitete es fieberhaft. Die besonnene Stimme des Mönchs verwirrte sie. Die innere Spannung schien kurzzeitig von ihr abzufallen.
»Sag, warum beeindruckt mich dein Wort so sehr, alter Mönch?«
»Weil ich ein Mann des Glaubens bin. Und weil dein Vater mein Freund ist und ich einen guten Freund nicht verlieren möchte. Ich glaube, Lilian, dass du dich für das Richtige entscheiden wirst.«
»Mir war ja gar nicht bewusst, dass du Freunde hast!« Die Klinge strich jetzt bedrohlich um Herdans Kehlkopf. Das Mädchen beugte sich etwas zu ihm herunter. Im Nu schoss Herdans Faust in die Höhe und warf Lilian nach hinten. Sofort sprang er auf die Beine, nur um erneut in die blitzende Klinge von Lilians Stock zu schauen. Überrascht wich er einen Schritt zurück.
»Was soll das Ganze? Am liebsten würde ich dir den Hintern versohlen.«
»Versuch´s doch!« Lilian zuckte mit ihrer Waffe. »Wirst schon sehen, was du davon hast.«
»Und wie dünn du bist! Gibt es da, wo du herkommst, nichts Vernünftiges zu beißen?«
»Ich bin auf der Wanderschaft.«
»Was? Du auf der Wanderschaft? Ha!«
»Ich bin eine Lautenspielerin!«
»Damit ist jetzt sofort Schluss! Ich schicke dich umgehend zurück nach Hause!«
»Du schickst mich nirgends wohin!« In Lilian stieg der Zorn hoch. »Du hast uns im Stich gelassen! Dafür wirst du jetzt büßen.«
»Aber nur, weil ich zum Grafen berufen wurde!«
»Hört, hört! Ich glaube, die Sache hat sich ein wenig anders zugetragen – oder, Herdan?« Eligius trat aus dem Gebüsch heraus.
»Troll dich, du Strolch!« Herdan zog einen brennenden Ast aus dem Feuer und warf ihn dem Grottenthaler entgegen.
»Du führst dich auf, wie ein dummer Junge«, rief Eligius. Er wich dem Ast aus und gesellte sich zu Vitus. »Übernimm endlich Verantwortung!«
»Das mache ich doch! Ich schicke meine Tochter zurück nach Hause!«
»Na klar, damit schiebst du sie wieder einmal ab und alle Verantwortung von dir.«
»Grafen tun so etwas! Du machst das doch ständig!«
»JETZT BERUHIGT EUCH ENDLICH!« Vitus´ Stimme überschlug sich förmlich. »Komm zur Besinnung, mein Freund! Sie hat sicherlich allen Grund, über dich erzürnt zu sein. Ich weiß zwar nicht, wie sie es geschafft hat, hierher zukommen, aber ...«
»Das war nicht schwer«, unterbrach Lilian seinen Redeschwall.
»... aber ich finde, dass Lilian dir nicht unähnlich ist. Sie ist mutig, temperamentvoll und sie hat ein Schwinger, der dir beileibe gerecht wird. Schau endlich genauer hin! Ob es dir nun passt, oder nicht, hier vor dir steht deine Tochter. Und sie hat ein Recht auf eine Erklärung!«
Graf Herdan ließ die Schultern sinken.
»Es tut mir leid, Lilian!« Beschämt schlurfte er heran und blieb vor der stoßbereiten Klinge stehen.
»Na dann, Lilian! Stoß zu!«
Lilians Augen wanderten zwischen Herdan und Vitus hin und her.
»Oder glaubst du, dass du mir verzeihen kannst?«, murmelte Herdan kleinlaut. »Dann bitte ich dich, senke die Klinge, damit wir uns umarmen und versöhnen können!«
Der Mönch nickte Lilian aufmunternd zu.
»Fuh!«, hauchte sie leise und wie auf Befehl zog sich die Klinge lautlos in den Schaft des Stockes zurück.