Geheimnisvolles Gandenthal

Kasper auf Abwegen

Seine Schwingen lagen weit ausgebreitet im Wind. Die ersten Lichter des Tages zeigten sich bereits am östlichen Horizont.
Aufmerksam verfolgte Kasper das stählerne Dampfross, wie es sich schnaubend dem Viadukt von Norden her näherte. Kurz vor der Brücke verlangsamte der Lokomotivführer die Maschine auf Schrittgeschwindigkeit und ließ ein schrilles Signal ertönen. Kasper erspähte zwei verdächtige Personen, die aus einem nahen Gebüsch dem letzten Waggon hinterherliefen und behände auf die hintere Plattform aufsprangen. Nach dem Viadukt nahm der Zug rasch wieder Fahrt auf und donnerte dem jetzt abschüssigen Teil der Strecke entgegen. Die Augen des Milans waren so scharf, dass er ohne Mühe Linus und Pit erkannte. Seinem Instinkt folgend, schoss er im Eiltempo hinterher.
Der Zug rauschte dampfend den Bahndamm hinunter. Ohne große Anstrengung folgte Kasper in sicherem Abstand. Kurz bevor die Eisenbahn die Stelle passierte, an der die Weidenreiter mit William unterhalb der Schienen auf den Zug warteten, tauchte er geschickt auf der anderen Seite der Böschung ab und flog heimlich an ihnen vorüber. Er wollte unentdeckt bleiben, denn Veda hatte ihn ausdrücklich zurück in die Bibliothek beordert. Aber das war ja schon eine kleine Ewigkeit her. Die Feldhüter hatten seine Neugierde geweckt und es gehörte zu seinen Aufgaben, hin und wieder nach Linus und Pit zu schauen. Schon des Öfteren hatte Kasper die beiden aus brenzligen Situationen gerettet, ohne dass sie von seiner Hilfe jemals etwas mitbekommen hätten.
Also gönnte er sich jetzt diesen kleinen Ausflug, denn die Bibliothek fand er im Grunde total langweilig, allerdings mit einer Ausnahme: Wenn Patrick da war, gab es stets einen Heidenspaß!

Kasper flog unmittelbar in Höhe der Waggons. Der Zug beschrieb eine lang gezogene Rechtskurve.
Mit einem Mal bemerkte er, wie sich seine Flugbahn trichterförmig zusammenzog. Ratternd rückten die Räder gefährlich näher. Der Sog des Zuges hatte ihn erfasst. Er war zu dicht dran! Wieder ertönte das schrille Pfeifen der schweren Lokomotive. Direkt vor ihm baute sich eine Tunnelanlage im Felsen auf und der Zug hielt voll darauf zu. Sämtliche Sinne signalisierten ihm Gefahr. Der erste Teil des Zuges tauchte in die bogenförmige, schwarze Öffnung ein und verschwand aus seinem Blickfeld. Mit einigen kräftigen Flügelschlägen versuchte er, sich aus dem Luftstrom des dahinrasenden Zuges zu befreien. Aber es misslang ihm. Kasper wurde weiter mitgerissen.
Drohend kam die Felsenöffnung näher. Die Waggons tauchten jetzt immer schneller ein. Rechts von ihm wuchs die Böschung unheilvoll an. Für Kasper wurde es eng. Kaltes, blankes Metall berührte sein Gefieder. Mit einer gewaltigen, letzten Kraftanstrengung reckte er den Kopf nach oben, stellte seine Schwingen steil an und bremste so den Schwung ab. Schlagartig wurde er himmelwärts katapultiert. Haarscharf schoss er mit angelegten Flügeln über die Felskante hinaus und durchschlug die Zweige einer Erle. Das Donnern erstarb. Der Berg hatte den Zug verschluckt.

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