Geheimnisvolles Gandenthal

Auf der Pirsch

»Erkennst du etwas? Ragt ein Knochen aus den Federn heraus?«
»Nein, der Flügel sieht nicht gebrochen aus. Versuch ihn mal zu öffnen.«
Kasper stand mit seinen Klauen bis unter dem Bauch am Rande eines kleinen Baches und tunkte seinen Flügel immer wieder ins kühle Nass ein. 
»Tut richtig gut! Du hast recht, mit deiner Vermutung, der Flügel ist nicht gebrochen. Eher etwas verstaucht.«
»Meinst du, du kannst damit fliegen?« 
»Wenn das Gefieder wieder trocken ist, werde ich es versuchen. Aber sag, was machst du hier, Schlaui.«
»Dein Leben retten?«
»Das hast Du! Ich sah mich schon im Schlund des »Schwarzen Milans« verschwinden. Was für ein Albtraum. Er hat doch glatt behauptet, meine Eltern und meine Geschwister würden noch leben. Sie seien nicht in seiner Obhut!«, sagte er betont.
»Na ja, vielleicht ist da ja was dran.«
»Es war ein Albtraum, nichts weiter ..., oder?« Kasper wirkte verunsichert.
»Abwarten! Was hast du eigentlich hier am Rande des Erlengrunds verloren?«
»Das wollte ich dich auch gerade fragen.«
»Ich bin abgehauen!«
 »Du bist abgehauen? So, so! Und ich habe Linus und Pit ab dem Viadukt verfolgt. Sie sind auf den Zug aufgesprungen, und hinter dem Tunnel haben sie ihn wieder verlassen. Oberhalb der Tunnelröhre habe ich sie dann endgültig aus den Augen verloren, da ich von einem Gegenstand getroffen wurde. Den Rest kennst du.«
»Du bist mal wieder deinem übereifrigen Instinkt gefolgt. Aber sag, wo könnten sie hin sein?«
»Im Erlengrund verschwunden. Dort hin sind auch Veda und die Weidenreiter zusammen mit William unterwegs. Veda hatte mich in die Bibliothek zurückgeschickt. Pah! Wie langweilig!«
»Dann lass uns nachsehen, wo sie sind. Was macht dein Flügel? Ist er in Ordnung?«
Kasper hob die Schwingen aus dem Bach und schleuderte das Wasser mit kräftigen Schlägen aus dem Gefieder.«
»Bah! Vielen Dank! Jetzt bin ich nass!« Schlaui schüttelte sich.
»Stell dich nicht so an. Die Sonne wird dein Fell schnell wieder trocknen.«

Kasper erhob sich vorsichtig in die Lüfte und flog eine kleine Runde in niedriger Höhe. In seinem Augenwinkel erspähte er, wie die Weidenreiter ins Dickicht des Erlengrunds eindrangen. Rasch kam er wieder zurück und landete neben Schlaumeier geduckt im Gras. Er gab Schlaui das Zeichen, ihm zu folgen, dann stieg er wieder empor. Sein Flügel schmerzte leicht, aber er würde damit schon zurechtkommen. Das kühle Wasser des Baches hatte schlimmeres verhindert. Am besten nicht so eifrig mit den Flügeln schlagen. Jetzt war Gleiten in den Aufwinden angesagt. 
Schlaumeier stieg die Böschung der Tunnelröhre empor. Dort angekommen, wartete Kasper bereits. Schlaui legte sich ins tiefe Gras. Dann stieg der Milan zu einem Erkundungsflug über den Wäldern des Erlengrunds auf. Er versuchte, sich möglichst unauffällig zu verhalten. Vorsichtig spähte er die Umgebung aus. Auf keinen Fall wollte er Vedas Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Lautlos kreisend beobachtete er, wie die Weidenreiter auf einer Lichtung von Andys Leuten in Schach gehalten wurden, um dann von der Lichtung weggeführt zu werden. Er wollte gerade die Verfolgung aufnehmen, als er zwei regungslose Körper im Gras entdeckte: Linus und Pit, von roten Weidensteinen getroffen. Er flog eine flache Kurve und schoss zurück zur Tunnelröhre, um Schlaui zu benachrichtigen. 
Der kleine Kater hatte es sich in der Zwischenzeit im Gras gemütlich gemacht und döste vor sich hin. 
»Was war das doch für ein verrückter Morgen«, stellte Schlaui fest und gähnte ausgiebig. 
Kasper setzte neben Schlaui zur Landung an.
»He, nicht einschlafen, Kleiner! Ich habe die Feldhüter entdeckt. Ich brauche dich jetzt. Komm, spring auf!«
»Spring auf? Bist du plötzlich ein Pferd geworden?«
»Quatsch! Jetzt mach schon. Ist ja nicht das erste Mal, oder?«
»Du weißt, dass ich fliegen hasse.«
Schlaui kletterte auf den Rücken des Vogels und krallte sich vorsichtig in das Gefieder.
»Aber keine Loopings drehen, bitte, dann wird mir schlecht.«
»Keine Sorge, darauf kann ich verzichten. Jetzt halt dich fest, ich brauche etwas Anlauf.«
Kasper hüpfte zum Rand der Tunnelröhre und blickte hinunter auf die Gleise. 
»Oh, Oh, gewaltig hoch«, bemerkte Schlaui. »Du wirst dich doch nicht darunter stürzen wollen?«
Kasper ignorierte die Frage, hüpfte von der Kante etwas zurück, um Anlauf zu nehmen, spurtete los und stürzte sich mit weit ausgebreiteten Schwingen in die Tiefe. Kurz vor dem Schienstrang fing er sich ab und erhielt leichten Auftrieb. In geringer Höhe flog er über die Schienen hinweg. 
Auf einmal erklang hinter ihnen ein ohrenbetäubender, schriller Pfeifton. Ratternde, dampfende metallische Geräusche schoben sich von hinten an Ihnen heran. 
»Ein Zug!«, schrie Schlaui. »Wir müssen hier weg! Mist!«
»Aaahhh!«

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