Geheimnisvolles Gandenthal

Auf samtenen Pfoten

So etwas war Schlaumeier bislang nicht untergekommen: Erst wurde er aus seinem wohlverdienten Schlaf gerissen, dann drangen dunkle Männer in seine geliebte Küche ein und holten Lohmis ab. Einige Teller zerbrachen auf dem Fußboden und zu allem Überfluss erschreckte ihn der dickliche Nachbar fast zu Tode. Daraufhin war er abgehauen. Soweit fortgelaufen, dass er den Ort, der ihn heute so verschreckt hatte, weder riechen, hören noch schmecken konnte. 
Irgendwann würde wieder alles ins Lot kommen, dessen war er sich sicher, aber, bis dahin beschloss er, dem Haus und seinen Bewohnern fern zu bleiben. Allerdings würde es nicht schaden, dann und wann einen Blick zu riskieren, falls William wieder auftauchen sollte. Denn in seinen Armen fühlte er sich geborgen und glücklich.

Auf leisen Pfoten strich er durch das Unterholz. Eine prima Möglichkeit, das Jagdgebiet zu erweitern. Die Wälder des Himmelreichs waren ihm vertraut und die Felder und Wiesen um die Burgruine ebenso. Das Gebiet entlang des Bahndamms, bis hin zum Erlengrund, stellte unbekanntes Gelände dar. Heute war die Gelegenheit, dieses Terrain näher in Augenschein zu nehmen. Schließlich hatte Schlaumeier nichts weiter vor und die Morgensonne stand bereits wärmend am Himmel. Nur das mit den »Singenden Schienen« bereitete ihm ein wenig Kopfzerbrechen, aber er würde schon einen Weg finden, sie unbeschadet zu überqueren.
Mutig erklomm er den Bahndamm und schlich nah an das Gleisbett aus schwarzem Schotter heran. Er hatte Glück! Im Moment war nur das Zwitschern der Vögel zu vernehmen, die Schienen schwiegen und so setzte er mit einem weit gestreckten Sprung auf die andere Seite über.
Geschafft! Sofort duckte er sich flach ins Gras, kroch in Position und lauschte. Seine Ohren drehten und zuckten im Takt der einfallenden Laute. Sein Gehör war so fein, dass er die Mäuse unter dem Gras in ihren Gängen nagen hörte, und mit seinen sensiblen Pfoten ihre Laufrichtung bestimmen konnte. 
Aber daran war er jetzt nicht sonderlich interessiert. Etwas drang in seine Nase. Etwas, was ihm nicht unbekannt war. Der unverkennbare Geruch von Blut und dazu die Witterung eines Fuchses. Füchse stellten für Schlaumeier kein Problem dar. Man kannte sich von zufälligen Begegnungen während der nächtlichen Jagd und respektierte sich gegenseitig. Da war das Aufeinandertreffen mit einem Marder schon dramatischer. Schlaumeier wusste aus eigener Erfahrung um die gefährlichen, spitzen Zähne dieses Raubtieres und war stets auf der Hut vor einem Angriff. Allerdings wiesen Narben im Pelz eine gewisse Geübtheit im Kampf nach, die jeder Kater stolz und zur Abschreckung seinen Artgenossen präsentierte. Aber der Marder war weit und sein Geruch verpestete nicht die Luft. Wahrscheinlich war das Gebiet hinter dem Bahndamm ausnahmslos den Füchsen vorbehalten.
Gut so! Dann würde er jetzt in Ruhe dazu übergehen, sein neues Jagdgebiet gründlich zu inspizieren, denn der Tag war noch jung und Schlaumeier hatte unendlich viel Zeit.

Alles, alles fühlte sich ungeheuer leicht an. Keine Schmerzen quälten Kasper. Die Welt um ihn herum wirkte friedlich. Heiß flimmerte die Luft. Sie war erfüllt von Farben und Gerüchen, reich an Stimmen und Lauten und reich an Erinnerungen. Er war angekommen. Endlich! Kasper war wieder zu Hause, dort wo alles begann und wo alles so schnell verging. Er sah sich deutlich oben im Horst hocken und der Blick ins Gandenthal war wie immer atemberaubend.
Allerdings täuschte ihn sein Eindruck. Er vernahm zwar das Kreischen und Schreien seiner Eltern und das seiner Geschwister, und wie sie ihn immer wieder zum Fliegen ermutigten. Auch nährte sich das Gefühl bei Kasper, da sich ihre Schatten hin und wieder am blauen Firmament zeigten, dass sie gleich vor ihm im Horst landen und ihn stupsen und zwicken würden. Aber all dies blieb nur eine Illusion und die für Kasper so vertrauten Stimmen entfernten sich zusehends.
Tiefste Traurigkeit überkam ihn, und als das Ende in Gestalt einer drohenden, dunkelgrauen Gewitterfront aufzog und jegliche Erinnerung daran ausnahmslos verschluckte, erkannte er, wie töricht es von ihm gewesen war, sich den Eltern in der Unterweisung des Fliegens zu verweigern.
»Du siehst, lieber Kasper, Bequemlichkeit und Eigennutz führen nicht immer zum erhofften Ziel.«
»Niemand gibt Euch das Recht, so über mich zu urteilen.«
»Vielleicht nehme ich mir aber das Recht heraus. Du hattest Angst vor der Welt dort draußen.«
»Angst? Nein! Ich hatte keine Angst vor der Welt. Nur wollte ich meine eigenen Entscheidungen treffen. Ich war mir genau bewusst, was ich tat.«
»Verzeih mir, aber wie ich sehe, hast du dich im Laufe der Jahre nicht geändert. Nur weil du glaubtest, die Welt von hier oben in ihrer Gesamtheit zu überblicken, damals aus einer sicheren und behüteten Distanz heraus, hast du gemeint, du könntest dich den Bemühungen und Erfahrungen deiner Eltern verweigern. Aber ich gebe zu, das entspricht durchaus dem Privileg der Jugend.«
»Aber ich hatte Glück.«
»Sicher! Als der Sturm dich heimsuchte, verlassen von Eltern und Geschwistern, wurdest du gerettet. Ja, da war das Glück mit dir.«
»Verlassen von meinen Eltern? Sie sind im Sturm umgekommen, genau wie meine Geschwister.«
»Sei dir da mal nicht so sicher, Kasper! Sie befinden sich nicht in meiner Obhut.«
»Sie sind Euch entkommen! Was für ein Pech! So leicht erwischt Ihr mich auch nicht!«
Kasper versuchte, aus dem Nest herauszuspringen, aber der »Schwarze Milan des Todes«, der am Rande des Horstes saß, erhob sich drohend und breitete seine Schwingen aus. In seiner Stimme lag ein dunkles, gefährliches Grollen.
»MIR! MIR ENTKOMMT NIEMAND, DU MICKRIGER WURM!« Dann schnellte er vor und vergrub Kaspers kleinen Kopf in seinem riesigen, alles zerstörenden Schnabel. Er zerrte und riss so fest, dass Kasper Hören und Sehen verging. 
Schrilles Pfeifen wand sich durch seine empfindlichen Gehörgänge. Unter ihm bebte die Erde. Seinem Gehirn schienen spitze Nadeln zu entwachsen. Dann wurde er hochgerissen, geschleudert, herumgewirbelt Etwas Steiniges, Holpriges kratzte über sein Gefieder. Ein helles Licht, sich rasch nähernd, erschien tief im Schlund des »Schwarzen Milans«.
Kasper öffnete die Augen und sah in das schnurrende, pelzige Gesicht von Schlaumeier.

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