
Der neue Weidenreiter
Beeindruckt schritt Ulrich an den Wandregalen der geheimen Bibliothek entlang.
»Bist du schon einmal hier gewesen?«, fragte William.
»Ja, öfters! Gemeinsam mit meinem Vater. Er hat mir aus unserer Familienchronik vorgelesen. Sie muss hier irgendwo in einem der Regale stehen.«
»Die Bibliothek ist dir bekannt?«
»Natürlich! Wir Weidenreiter sind doch die Hüter der Bibliothek«, sagte Ulrich stolz. »Seit wann weißt du davon?«
»Erst seit gestern Abend. Mein Onkel hat mich eingeweiht.«
»Aha, das ist ja spitze. Dann bist du ab sofort einer von uns!« Ulrich schlug William freundschaftlich auf die Schulter. »Komm, wir sehen mal nach, ob die etwas Spannendes hier im Regal stehen haben«, sagte er und zog seinen Freund mit sich.
Am anderen Ende des Raumes standen Nicholas und Veda zusammen am Kamin. Veda hielt ihre Hände weit vorgestreckt, um sich ein wenig aufzuwärmen.
»Ist dir kalt, mein Kind?«
»Ja! Die Nächte draußen im Weidenthal sind meistens recht ungemütlich. Aber ich komme zurecht. Meinem Bruder scheint das alles gar nichts auszumachen.«
»Er schläft weiterhin im Freien?« Nicholas lächelte sie vielsagend an.
»Ja, das hat er von dir.«
»Nun, es ist zwar schon eine Weile her, aber ich erinnere mich daran, wie ich mit euch Kindern und eurem Vater damals durch die Wälder gezogen bin. Dein Bruder hat sich geweigert, in meiner Hütte zu schlafen.«
»Richtig, und da bist du bei ihm draußen geblieben.«
»Während ihr beiden es euch in der warmen Stube gemütlich gemacht habt.« Nicholas lachte. »Dein Bruder ist schon ein besonderer Mensch. Er erinnert mich sehr an euren Vater. Er trägt die gleichen guten Eigenschaften in sich. Manchmal denke ich, es sei erst gestern gewesen.«
Veda schaute nachdenklich zu Ulrich und William hinüber, die am anderen Ende der Bibliothek wie Zwerge vor den hohen Regalen wirkten.
»Wir sind dir unendlich dankbar für deine Hilfe. Ohne dich wäre alles noch viel schlimmer gekommen.«
»Ich versuche mein Bestes. Eines Tages werden wir eure Eltern und die anderen wieder finden, das verspreche ich dir!« Nicholas gab Veda einen aufmunternden Kuss auf die Stirn.
»Kommt her!«, rief er und winkte die beiden Jungen zu sich. »Wir frühstücken jetzt und besprechen uns. Ach, übrigens, Ulrich, die Chronik eurer Familie ist in meinem Fach. Ich werde sie dir später zeigen«, und fügte hinzu, »falls wir noch Zeit dazu haben.«
Alle setzten sich an den bereits gedeckten Tisch. William wirkte ein wenig müde. Ihm flimmerten die Bilder des Albtraums durch den Kopf.
»Nun, was ist so wichtig, dass ihr mich so früh geweckt habt«, fragte er gähnend.
»Die drei Bogenschützen sind geflohen!«, sagte sein Onkel nüchtern.
William war fassungslos. Schlagartig wurde er wach.
»Sie haben Pit und Linus mit zwei roten Weidensteinen betäubt und sind damit getürmt!«
»Deshalb werden wir heute den Erlengrund aufsuchen und die Steine wieder zurückholen«, sagte Veda. »Rote Weidensteine in Andys Händen bedeuten für uns alle eine große Gefahr. Und vermutlich finden wir deinen Vater dort. Ejnar ist ihnen zusammen mit Kasper in den Erlengrund gefolgt und hat sie im Auge. Sobald wir von Kasper eine Botschaft erhalten, brechen wir auf.«
»Ihr wollt in den Erlengrund? Ihr wollt wirklich in den Erlengrund?« William war entsetzt.
»Es ist ein Wald wie jeder andere«, beruhigte ihn Ulrich.
»Nein, ist er nicht, nein, überhaupt nicht! Es spukt dort und es gibt ein »Phantom« und die »Wilde Horde« und es ist gefährlich!«
»Sind das »Phantom« und die »Wilde Horde« nicht ein und dasselbe?«, warf Ulrich ein.
»Mir egal, nicht einmal die Feldhüter trauen sich da hinein!«
»Das sind doch alles nur Gerüchte, Will! Wie gesagt, für uns ist es ein Wald wie jeder andere. Es gibt dort Bäume und Sträucher, genauso wie anderswo. Die Wälder waren immer gut zu uns. Wenn du Mut hast, komm doch mit und ich verspreche dir, dass nichts passieren wird.«
William winkte ab.
»Nein, ohne mich. Da geht mal schön alleine hin. Ich warte hier auf euch und auf meinen Vater, solltet ihr ihn überhaupt finden.«
»Mach dir nicht so viele Gedanken«, schaltete sich Onkel Nicholas ein. »Bist du nicht schon oft mit mir gemeinsam durch die Wälder gestreift? Das dürfte dir nicht unbekannt sein. Ulrich und Veda sind exzellente Waldläufer und du kannst dich auf sie verlassen. Ich vertraue ihnen und deshalb würde ich dir erlauben, mit ihnen zu gehen. Und falls dein Vater dort sein sollte, bist du der Einzige, der ihn erkennen könnte. Die beiden sind deinem Vater ja noch nie begegnet.«
»Außerdem wird man dich kaum entdecken können«, sprach Veda geheimnisvoll und ihre Augen versprühten jenen gewissen Glanz von Abenteuerlust. »Niemand wird dich hören, niemand wird dich sehen.«
»Niemand wird mich sehen?«
»Ja, niemand, aber jetzt langt erst einmal zu, Kinder! Mit leerem Magen kann man nicht auf die Pirsch gehen.« Wie gewohnt griff sich Onkel Nicholas gleich zwei Gandenthaler Krüstchen auf einmal aus dem Brotkorb. William lachte laut, als er sah, wie sein Onkel den Brötchen mit seinen dicken Fingern zu Leibe rückte. Selbst Veda und Ulrich fanden den Anblick zum Lachen.
»Was ist?«, fragte Onkel Nicholas und biss kräftig ab. »Nur keine Scheu, haut ordentlich rein.«
Kurze Zeit später öffneten sich die großen Flügeltüren und Patrick erschien in der Bibliothek. Er trug Kasper auf dem Arm. Im Köcher des Milans steckte ein kleiner Zettel. Veda erhob sich, schritt ihnen entgegen und entnahm die Botschaft.
»Es wird Zeit«, sagte sie, derweil sie die Nachricht kurz überflog, »aber erst müssen wir dich einkleiden, William, so wie es sich für einen echten Weidenreiter gebührt!«