Geheimnisvolles Gandenthal

Gefahr im Verzug

Wild gestikulierte Ulrich in der geheimnisvollen Zeichensprache auf seine Gefährten ein. Doch die zuckten nur mit den Schultern und blickten ratlos. William lag zwischen ihnen und war ohne Bewusstsein. Sein Atem ging ruhig und gleichmäßig, aber sein Gesicht hatte eine kalkige Blässe angenommen. Jedem war die seltsame Gestalt des alten Mannes aufgefallen, der auf einem dicken Ast saß. Außer Arvid. Er stand zu weit abseits, um die Lichtung einzusehen. Jetzt verfolgte er die stummen Gebärden seiner Freunde mit großem Erstaunen. Nur schwer konnte er sich einen Reim darauf machen. Ejnar sprach von einem geheimnisvollen Leuchten, das von dem Alten ausging. Ulrich hingegen war der Ansicht, das helle Erstrahlen der Gestalt sei eher dem einfallenden Licht zuzuschreiben. 
Veda und Cinja hielten es für klüger, dieser Unterredung fern zu bleiben. Sie kümmerten sich lieber um William. Unterdessen hatten sie den Bewusstlosen auf den Rücken gelagert. Vorsichtig bettete Veda Williams Kopf in ihrem Schoß und Cinja hielt seine Hand.
Jäh unterbrach Arvid mit einer Handbewegung die stumme Unterhaltung. Die hektischen Gebärden Ulrichs und Ejnars stoppten prompt. Jetzt hörten sie es auch. Von hinten drangen verräterische Geräusche an ihre empfindlichen Ohren. Etwas keuchte und raschelte im Buschwerk. Jemand bewegte sich stetig auf die Lichtung zu. Ulrich malte drei, vier Zeichen in die Luft, robbte geduckt ein paar Schritte rückwärts, um dann lautlos im Strauchwerk zu verschwinden. Kurz darauf war er wieder zurück.
»Es sind Linus und Pit!«, signalisierte er aufgeregt.
»Die Feldhüter? Was wollen die hier?« Veda konnte ihr Erstaunen nur schwer unterdrücken.
»Seht mal!«, flüsterte Ejnar und deutete in Richtung der Eiche. Der alte Mann war verschwunden. »Wo ist er hin? Ob er die Feldhüter ebenfalls bemerkt hat?«
»Nein, seine Ohren hätten die Geräusche nicht auffangen können. Dazu ist er zu weit entfernt gewesen«, überlegte Ulrich. »Dort! Da hinten!«
Unweit des Baumes lagen zwei schwarz gekleidete Gestalten schlafend im Gras. Ein Dritter lehnte an einem Feldstein. Er war eingenickt. Die Augen geschlossen, hob und senkte sich sein Brustkorb in gleichmäßigen Zügen.
»Das sind sie«, flüsterte Arvid. »Soll ich ihnen eins mit der Zwille verpassen?«
»Nein, Arvid, noch nicht. Zuerst kümmern wir uns um die Feldhüter«, bremste ihn Ulrich in seinem Tatendrang.
»Und wie willst du das anstellen?« Arvid wurde ungeduldig. »Linus und Pit werden ihnen direkt in die Arme laufen!«, prophezeite er.
»So weit wird es nicht kommen«, sagte Veda und griff nach ihren Waffen.
»Nein, das erlaube ich nicht!« Ulrich hielt Veda am Arm zurück.
»Wir brauchen die Weidensteine!«, zischte sie scharf.
»Lass uns noch etwas abwarten!«
»Nein! Keine Zeit!«, erwiderte sie. Ihre Entscheidung stand fest.
»Du wirst dort nicht hinausgehen, Veda!«
»Willst du einen Geschwisterstreit vom Zaun brechen, Bruder?«
»Hört auf! Da!« Ejnar zupfte Veda am Arm. 
Einer der drei Männer gähnte laut und streckte sich ausgiebig. Sein Blick fiel auf seinen schnarchenden Kumpanen. Schon war er auf den Füßen und verpasste ihm einen kurzen, aber kräftigen Tritt gegen den Oberschenkel. Mit einem Satz sprang dieser fluchend auf und ballte die Fäuste. Es hagelte einige unschöne Worte.
William kam wieder zu sich und schlug benommen die Augen auf. Veda hielt ihm den Mund zu und legte ihren Zeigefinger vielsagend auf ihre Lippen. Er verstand sofort. Still blieb er liegen. Sein Schädel brummte. Eine helle Erscheinung geisterte durch seine Gedanken. Der alte Mann! 
Mühevoll richtete er sich auf. Nur langsam kam wieder Ordnung in sein Gedächtnis. Wie ein Film zogen die Bilder von gestern Abend an seinem geistigen Auge vorüber. Er erinnerte sich an das Gespräch mit Pit, und an die Angst, die ihn wie eine kalte Hand berührte. An Vedas Bericht über die Flucht der drei Bogenschützen, wie sie Linus und Pit mit den roten Weidensteinen außer Gefecht gesetzt hatten. Was würde passieren, falls sie im Dickicht entdeckt werden sollten? Er konnte gerne darauf verzichten, von einem dieser fauchenden Weidensteine getroffen zu werden. Die Wirkung dieser Steine hatte er mit eigenen Augen gesehen. Je länger er darüber nachdachte, umso flauer wurde es ihm.
In diesem Augenblick stolperten Linus und Pit auf die Lichtung. Einer der Bogenschützen wirbelte herum und schoss zwei rote Weidensteine auf die Feldhüter ab. Im hohen Bogen wurden sie ins Gras geschleudert und rührten sich nicht mehr. Dann war höhnisches Gelächter zu vernehmen.
»Die beiden werden`s nie lernen! Ha, ha! Los holt mir die Steine zurück!«
»Kommt mit, wir fangen sie ab!«, flüsterte Ejnar und zog Arvid und Cinja mit sich. Ulrich ließ sie gewähren. Die Weidenreiter verschwanden im Dickicht.
»Wo ist der alte Mann geblieben?«, fragte William.
»Keine Ahnung!«, antwortete Veda. »Wäre es nicht besser, Ulrich, wenn du ihnen folgen würdest?«
»Du hast recht, ich gebe Rückendeckung.« Und schon war auch er verschwunden.
William war allein mit Veda. So hatte er sich sein erstes Abenteuer nicht vorgestellt. Wahrscheinlich war er nicht der Einzige, der so dachte.
Veda beugte sich nah an ihn heran.
»Was war denn eben mit dir los?«, wollte sie wissen.
William überlegte. »Wie soll ich es beschreiben? Zuerst habe ich nur Stimmen vernommen, elfenhaften Gesang. Es war unheimlich und betörend zugleich. Und dann stand ich direkt vor dem alten Mann. Seine Augen waren schwarz, so leer, ohne Leben. Es war grauenvoll! Doch gleichzeitig ging eine vertraute Wärme von ihm aus. In seiner Gegenwart fühlte ich mich geborgen. Ab da habe ich eine totale Erinnerungslücke.«
»Ob es ein Zeichen war?«
»Was meinst du damit, was für ein Zeichen?« Weiter kam William nicht. Um sie herum knackten die Äste.
»Wen haben wir den hier?«, sagte eine barsche Stimme, dass William und Veda der Atem stockte. Beide fuhren erschrocken herum und blickten in zwei abschussbereite Pfeile.

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