
Vierte Woche
Eine Maschine
Das Geschenk
Isaac schaute in den diffus, mit orangebraunen Farbtupfern durchzogenen Abendhimmel hinauf. Der Staubsturm der vergangenen Stunden hatte nachgelassen. Nur eine kleine Windhose wirbelte noch in der Ferne über die zerklüftete Landschaft und zeichnete dunkle Spuren in den aus Eisenoxid bestehenden rostigen Staub.
Ein Geräusch weckte ihn aus seiner Versunkenheit. Betty war dicht an ihn herangetreten und berührte zart seine Schulter.
»Werden sie heute kommen und uns holen?«
Er wendete sich ihr zu und sah sie an. Ihre Augenlider waren eingefallen, ihr Haar ergraut, ihre pergamentartige Haut voll von schwarzen und braunen Flecken. Mit Mühe stützte sie sich auf einem Stock ab.
»Nein, ich habe leider keine Nachricht erhalten.«
»Dann wird es also passieren?«
»Ja, Betty! Es wird passieren.«
Sanft befühlte sie sein Gesicht.
»Du hast dich in all den Jahren nicht verändert. Deine Haut ist genauso schön wie damals.«
Er nickte stumm.
»Weißt du, was ich vermisse, Isaac? Die Sonne, wie sie glutrot im Meer versinkt. Den endlosen Sternenhimmel in einer warmen Sommernacht. Den Geruch von Rosenblüten und frisch geschnittenem Gras. Ich sehne mich nach dem Summen der Bienen. Aber dies alles sind Sehnsüchte einer längst erloschenen Vergangenheit. Und ich vermisse den Blick auf unseren »Blauen Planeten«. Wie er sich damals an dem Tag des Aufbruchs von seiner ganzen Schönheit zeigte. Wie die Erde kleiner wurde, je mehr wir uns von ihr entfernten, um als winziger Punkt im roten Nebel für immer zu verschwinden. Es war schwer für mich, meine Heimat aus den Augen zu verlieren.«
Isaac ergriff Bettys Hand und führte sie zu ihrem Schlafplatz, der direkt unter der Panoramakuppel lag. Behutsam half er ihr, sich in die Kissen niederzulegen. Dann setzte er sich zu ihr ans Bett.
»Aber wir hatten wunderbare Tage hier«, sprach Isaac.
»Abgesehen von den vielen, trockenen Stürmen?«
»Ja, abgesehen von den vielen Stürmen.« Er zeigte in die Weite der Landschaft. »Heute ist wieder so ein Tag, schau!«
Betty richtete sich ein wenig auf. Draußen hatte sich der Horizont blau verfärbt. Eine weiße Sonne schwebte schimmernd über dem »Xanthe Terra« Hochland. Ein eindrucksvoller Anblick! Ein kurzes Schmunzeln huschte über Bettys faltiges Gesicht. Dann sank sie kraftlos zurück in die flauschigen Kissen.
Isaac erhob sich. Die Sonne war hinter den Hügeln verschwunden. Draußen legte sich die Dunkelheit wie ein mächtiger Schatten über das Land.
Er zog die Bettdecke ein wenig höher. Mit der flachen Hand verschloss er ihre Augenlider. Ihr Gesichtsausdruck wirkte völlig entspannt; ihr Körper von allen Qualen des Alterns befreit.
Von draußen vernahm er ein monotones Summen, das sich rasch näherte. Aus der Dunkelheit tauchte eine Reihe von grellen Lichtern auf, scannten den Boden nach der Landeplattform ab. Weich setzte das Raumschiff auf. Die Motoren verstummten.
Isaac ging zur Tür, ein letzter Blick zurück, dann löschte er das Licht.
Er durchquerte zügig die Forschungsstation und betrat die Luftschleuse. Ohne zu zögern, öffnete er die Außentür und trat ins Freie hinaus. Amir erwartete ihn bereits. Er stand in der Tür des Schiffes und winkte.
»Isaac! Schön, dich endlich wiederzusehen. Wie lange ist das her?« Die beiden Freunde umarmten sich.
»Eine kleine Ewigkeit glaube ich.«
»Du hast es getan?«
»Ja, es war ihr letzter Wunsch.« Isaac wischte sich eine Träne aus dem Gesicht.
»Du warst immer schon der Feinfühligste von uns.«
»Das alles verdanke ich nur ihr. Sie war meine Schöpferin und ich ihr ergebener Android!«
»So ist es gewesen. Doch komm, ich habe eine kleine Überraschung für dich.«
Die Freunde betraten das Cockpit und setzten sich in die hohen Pilotensitze. Amir betätigte einen Schalter auf der Konsole und ein Monitor klappte auf. Die Erde erschien, in einer Klarheit, so wie es Isaac vorher noch nie gesehen hatte. Amir scannte näher an die Erdoberfläche heran. Die Meere besaßen ein tiefes, gesundes Blau. Die Vegetation schien aufgeblüht. Dieses leuchtende Grün war beeindruckend. Ein Anblick, der Betty erfreut hätte.
»Die Erde erholt sich langsam. Sie darbt nicht mehr. Zwei Jahre kämpften die Menschen verzweifelt gegen das Virus. Letzten Endes haben sie verloren – alle!« Amir lachte zufrieden.
Dann wechselte die Perspektive und auf dem Monitor erschien ein sonnendurchflutetes Zimmer. In einem runden Sessel saß eine junge, blonde Frau, in ein Buch vertieft. Ihr Anblick war wie ein Stich in Isaac´ Herz.
»Ja, mein Freund! Das ist unser Geschenk an dich.«
»Und das Virus?«
»... kann ihr nichts anhaben, wir haben dafür gesorgt«, erklärte Amir.
In diesem Moment blickte Betty auf und lächelte.