Geheimnisvolles Gandenthal

Die geheime Bibliothek

»Das ist sie also, die geheime Bibliothek«, stellte William mit vollem Mund fest.
»Ja, Will, in der Tat, das ist sie. Aber sag, schmeckt es dir?«
»Danke, ja!« William schlang gierig ein Stück Gandenthaler Krüstchen hinunter. »Köstlich!«
»Probier mal die Marmelade mit den Moltebeeren. Ein Freund hat mir diese vitaminreiche Frucht letztes Jahr aus dem hohen Nordland mitgebracht. Und koste mal die mit den herrlichen Erdbeeren aus dem oberen Teil des Himmelreiches. Die Sonne hat es besonders gut mit ihnen gemeint.« Onkel Nicholas schob William ein weiteres Krüstchen zu und schmunzelte.
Beide gaben sich dem Genuss der kleinen Tafel hin.
»Wie hast du sie gefunden?«
»Was meinst du, William, die Erdbeeren oder was habe ich wie gefunden?«
»Na, du weißt schon! Die Bibliothek hier!«
»Ich habe sie nicht gefunden«, sagte er. »Deiner Mutter und mir wurde sie von unserem Vater vererbt. Dein Großvater war ein bekannter Stadtschreiber und ein vorbildlicher Bibliothekar und Kenner alter Schriften. Die Bibliothek wird seit vielen Jahrzehnten von Generation zu Generation weitergegeben und steht unter dem Schutz der Reiter aus dem Weidenthal. Du hast sie ja glücklicherweise kennengelernt.« Nicholas hob die Augenbrauen und lächelte vielsagend. »Und Veda!«
William errötete.
»Sie ist ein nettes Mädchen, nicht wahr?«
»Und eine geschickte Falknerin!«, sagte William.
»Ja, Kasper ist ihr ein und alles und ihr ständiger Begleiter. Wir sind immer wieder erstaunt, wie sich die beiden ohne viel Worte verstehen.«
»Wer ist wir, Onkel Nicholas? Wer weiß denn hierüber alles Bescheid?«
»Da sind Sir Robert, Patrick, der Herzog von Harrington und alle zwölf Grafen im Nordland. Und jetzt auch du. Schau dich um, Will. Du erkennst die Grafschaften an den Verzierungen ihrer Schwerter und an den Wappen ihrer Schilde. Jedes der Schilde markiert das Regal der jeweiligen Grafschaft.« 
Onkel Nicholas stand auf und führte William an den Regalen entlang. Die dicken Bretter trugen schwer unter der Last der alten Bücher und Dokumente. Einige hingen gefährlich durch und stützten sich auf die Darunterliegenden ab. Ein Großteil der Einbände zeigte deutliche Einrisse und Verfärbungen im Leder. Das Papier hatte bereits die Struktur von Pergament angenommen und schien auf den ersten Blick, dem nahen Verfall preisgegeben zu sein. Hin und wieder entstieg den Regalen ein staubiger Geruch, der sich aber sofort mit dem frischen Luftstrom vermischte und sich in dem hohen Raum umgehend verflüchtigte. Zu seiner Verblüffung erkannte William, dass sich eine Reihe von Büchern in einer Art Regenerationsphase befinden mussten. In den höher gelegenen Abteilungen sahen die Bücher frisch und fast wie neu aus, obwohl sie, nach Art ihres Einbandes zu urteilen, einer älteren Generation angehören mussten.
»Mein Vater ist nicht eingeweiht, oder?«, fragte William, während Nicholas ein dickes Buch in die Hand nahm und es aufschlug.
»Nein, William, und so soll es bleiben. Abgemacht?«
»Ja, ist doch Ehrensache!«, versprach William.
Nicholas zeigte ihm einen handschriftlichen Eintrag in einer geschwungenen, blauen Schrift.
»Das ist das Tagebuch deines Großvaters, mütterlicherseits. Er hieß Jospin de Saint Ville.«
William starrte seinen Onkel an.
»Jospin de Saint Ville? Dann ist ja Julien de Saint Ville einer meiner Urahnen!« William stutzte. »Und dein Name ist demnach ...?«
»Nicholas Alexandre de Saint Ville. Hast du das etwa nicht gewusst?«
William schüttelte den Kopf.
»Nein! Woher?«
»Stimmt, wir haben nie über meinen Nachnamen gesprochen. Jo! Jetzt verstehe ich!« Nicholas schlug sich vor die Stirn. »Als der Name Julien de Saint Ville fiel, konntest du damit nichts anfangen. Aber es ist wahr. Julien ist einer deiner Urahnen. Wir gehören einem alten Adelsgeschlecht an, das in den Westländern lebte. Du und ich sind die Letzten dieser Sippe. Lies selbst, was er zu deiner Geburt geschrieben hat.«
William beugte sich über das große Buch. Mit dem Zeigefinger berührte er behutsam die blaue Schrift und fühlte, wie sie unter seinen Fingern sanft dahin glitt.
Er las: »Meine Gebete wurden erhört. Heute gebar Marie Louise einen gesunden Sohn. Er wird den Name William tragen. Mögen den neuen Erdenbewohner stets alle guten Wünsche und Hoffnungen begleiten. Dies ist einer der glücklichsten Tage meines Lebens!«
»Das war sein letzter Eintrag, William. Fällt dir noch etwas auf?«
»Na, mein Geburtsdatum! Jetzt weiß ich endlich, wie alt ich bin.«
»Und, wie fühlst du dich dabei?«
»Prima!«
»Fünf Tage nach dieser Notiz verstarb deine Mutter an Kindbettfieber. Mit ihrem Tod erlosch auch sein Lebenswille. Seit jenem Tag hat er nie wieder etwas geschrieben oder mit uns gesprochen. Er starb ein Jahr nach deiner Geburt. Das Haus, in dem wir wohnen, gehörte früher deinem Großvater. Er arbeitete und lebte hier. Nach seinem Tod stand es viele Jahre leer, bis zu unserem gemeinsamen Einzug vor zwei Jahren. Ich sitze oft hier unten und lese in seinen Aufzeichnungen. Gerne hätte ich mit ihm noch über so manches gesprochen.«
»Wusste ich es doch! Ich habe es schon immer geahnt, dass du lesen kannst!«
»Ehrlich gesagt, ich bin Professor für Altertumskunde und habe einst im Westland gelehrt und ich bin ...« Nicholas schüttelte den Kopf. »Ach, aber das ist nicht so wichtig.«
»Was ist nicht so wichtig?« William sah seinen Onkel fragend an. Der zögerte.
»Ich war, nein, ich bin auch ein Arzt. Ein paar Jahre arbeitete ich als Chirurg und habe unverzeihliche Fehler begangen.«
Nicholas´ Stimme klang belegt. Ein feuchter Schimmer lag in seinen Augen. William war betroffen. Weinte sein Onkel? »Warum weinst du? Was ist passiert?«
Nicholas atmete schwer und zögernd formte sein Mund die bedeutungsschweren Worte: »Ich bin schuld am Tod deiner Mutter und an dem Tod anderer Frauen, die mir anvertraut waren und für die ich Verantwortung übernommen hatte.«
William erschauderte und es lief ihm eiskalt den Rücken hinunter, aber er behielt die Beherrschung, was ihn selbst in Erstaunen versetzte.
»Wieso? Warum?«, stammelte William. Seine Beine fühlten sich auf einmal butterweich an. Er griff nach einer Stuhllehne und setze sich.
»Ich erzähle es dir«, sagte Onkel Nicholas. »Ich war ein Spezialist für Frauenheilkunde und stets von meiner Arbeit überzeugt. Ein Chirurg, der für die Frauen immer da sein wollte. Vielen Kindern habe ich auf die Welt geholfen, aber manchmal verstarben ihre Mütter einige Tage nach der Geburt an einer geheimnisvollen Infektion. Man nennt es »Kindbettfieber«. Das Ganze ließ mir keine Ruhe und so forschte ich nach dem Grund, besprach mich mit anderen Chirurgen, reiste hier und dort hin, aber überall stieß ich auf große Ratlosigkeit. Niemand kam dem Rätsel auf die Spur. Es war wie verhext! Eines Tages hörte ich von einem Mediziner in einer fernen Stadt. Er behauptete, dass wir, die Ärzte, schuld am Tod unzähliger Mütter seien. Das hohe und tödliche Fieber würde durch winzig kleine Kadaverrückstände, die an unseren Händen kleben, verursacht.«
»Aber wie kommen die denn dorthin?«
»Ja, weißt du, als Chirurg arbeitest du an Leichen. Wir haben sie seziert, um nach Krankheiten zu forschen. Und dieser Umstand wurde den Müttern zum Verhängnis. Leider auch deiner Mutter. Dabei lag die Lösung so nahe.« Nicholas hielt inne und betrachtete seine Handflächen.
»Vor jeder Untersuchung hätte ich nur meine Hände mit Chlorkalkwasser waschen müssen und niemand wäre gestorben. Ich war ein medizinischer Teufel, ein Apostel der Kadaverinfektion. Wir, die Mediziner, waren zu überheblich und von unserem Handeln stets überzeugt. Das waren Fehler, die ich bereue. Viele Ärzte haben ihren eigenen Friedhof, nur meiner wiegt am schwersten. Ich vermisse deine Mutter sehr. Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht an sie denke.
Nach dem Tod deiner Mutter schwor ich mir, nie wieder als Chirurg tätig zu sein. Deshalb reiste ich weit, weit fort in ein fremdes Land, studierte die Archäologie und wurde zum Professor berufen. Im Westland war ich viele Jahre als Lehrer tätig. Als ich von dem Unfall deines Vaters erfuhr, bin ich zu euch in die Nähe gezogen, um ihn in der Schreinerei zu unterstützen. Überdies wollte ich sichergehen, dass deine Erziehung weiterhin in guten Händen liegt, da du mein Erbe einmal antreten wirst. Außerdem fühlte ich mich Lohmis gegenüber verpflichtet, denn ich hoffte so, ein wenig wieder gut zu machen.«
»Weiß mein Vater von all diesen Dingen?« William schluckte.
»Nein, ich erzählte ihm bei unserem ersten Zusammentreffen, dass ich ein Mensch wäre, der des Lesens und Schreibens nicht mächtig sei. Er hat mir die Lüge abgenommen. Ich war dazu gezwungen, um meine Identität und damit die Bibliothek zu schützen. Ich habe deinen Vater ja erst hier im Gandenthal kennengelernt. Du bist im Westland geboren, als deine Mutter bei uns zu Besuch war. Sie hat einige Zeit bei mir gelebt, da dein Vater die Schwangerschaft zunächst nicht akzeptieren wollte. Merkwürdigerweise hat Marie mich gegenüber deinem Vater nie erwähnt. Er war schon etwas erstaunt, als ich hier eines Tages zusammen mit dir auftauchte. Aber daran wirst du dich nicht erinnern. Du warst zu diesem Zeitpunkt noch ein Baby. Tja, und das ist die ganze Geschichte. Jetzt weißt du alles.«
William nickte, überlegte kurz. Dann schlang er die Arme um seinen Onkel.
»Ich habe dich lieb, Onkel Nicholas!«, flüsterte er und drückte ihn fest an sich. »Es tut mir leid, was dir passiert ist.« 
»Danke! Ich habe dich auch lieb«, erwiderte Nicholas erleichtert. 
Beide lösten sich aus der Umarmung. 
»Und, was glaubst du, wie es ihm ergeht?«
»Wem? Deinem Vater?«
»Ja.«
»Ich hoffe, wir finden ihn bald. Vermisst du ihn?«
»Ich weiß nicht. Ja, doch! Irgendwie schon. Komisch, oder?«
»Nein, das ist nicht komisch, Will! Überhaupt nicht. Egal, was dein Vater dir in der Vergangenheit angetan hat, gewollt oder ungewollt, du wirst mit ihm ewig verbunden sein. Er ist und bleibt dein Vater auch über den Tod hinaus. 
Viele Menschen versuchen im Laufe ihres Lebens, sich von ihren Eltern zu lösen. Sie brechen auf, gehen auf Wanderschaft, lassen sich an einem weit entfernten Ort nieder und gründen dort eine eigene Familie.
Doch eines Tages kehren sie zurück – an den Ort, wo ihre Wurzeln liegen, zurück in ihre Kinder- und Jugendzeit, wenn auch nur in Gedanken.«
»Du warst wirklich einmal Lehrer!«, sagte William.
»Ha, ha«, lachte Onkel Nicholas, » … so, merkt man das?«, schlug das Tagebuch wieder zu und stellte es augenzwinkernd ins Regal zurück.
»Ja, und es gefällt mir!«

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