Geheimnisvolles Gandenthal

Die geheimnisvolle Schreibmappe

Bange Gedanken plagten William. Seine sonst so friedlich behütete Welt hatte in den letzten Stunden wunderliche Formen angenommen. Nichts schien mehr so, wie es einmal war.
Er stand am Treffpunkt unterhalb des Bahndamms und spähte die Umgebung nach Onkel Nicholas aus. Aber weit und breit keine Spur von ihm. 
Über der Domäne hingen die schwärzesten Rauchwolken, die William je gesehen hatte. Selbst hier auf der Anhöhe roch die Luft aus der Ferne verbrannt, wie die eines Kohlenmeilers. Helles Glockengeläut schallte herauf. Auf dem Vorplatz rannten die Menschen wie Ameisen hin und her. Es herrschte Panik und er vermutete seinen Onkel mittendrin. 
Kurzzeitig kam es ihm in den Sinn, seinen Vater zu benachrichtigen. Ließ den Gedanken aber sofort wieder fallen. Der Streit von heute Morgen steckte noch zu tief in seinen Knochen. 

Die Zeit lief dahin. Das Läuten der Glocken verstummte, der Rauch ließ nach. Die gehetzten Bewegungen der Menschen verlangsamten sich.
Wie lange er nur so dastand, einsam und unbewegt, daran fehlte ihm später jedwede Erinnerung. 
Seine Gedanken rankten sich um das geheimnisvolle Falknermädchen. Obwohl das Treffen nur von kurzer Dauer war; trotzdem hatte Veda in ihm etwas ausgelöst: das Gefühl von Verbundenheit, Zuneigung und Vertrauen. Ein Hauch von Traurigkeit umfing ihn - sie jetzt nicht neben sich zu wissen.

Nicht weit entfernt, stand eine knorrige Holzbank, die von den Dorfbewohnern liebevoll, die Hexenschussbank genannt wurde. Feldhüter hatten sie aus den Resten einer vom Blitz getroffenen Buche gezimmert. 
William lief zur Bank, setzte sich und betrachtete seine Schreibmappe. Mit der Hand wischte er den Staub von der Oberfläche. Das dunkelbraune Leder war durch die Tritte Andys nicht beschädigt. Es gab nicht einen einzigen Kratzer. 
Auf der Vorderseite war undeutlich irgendein flaches Symbol zu erkennen. Wenn er die Mappe hin und herbewegte, schimmerte das Zeichen in einem grünlichen Ton. 
»Was hatte Ulrich zum Schluss gesagt?« William überlegte laut. »Versuch, sie zu öffnen! Wieso versuchen? So schwierig kann das doch nicht sein.«
William befühlte die Mappe von allen Seiten. Dabei bemerkte er, dass sich unter dem Leder ein harter Gegenstand verbarg. Mit den Fingern seiner Hand versuchte er, das Teil zu verschieben. 
Womöglich ein Schlüssel, überlegte William und zog überrascht die Augenbraue hoch. Nicht er verschob den Gegenstand, sondern das Teil glitt seinen Fingern voraus - oder hinterher, je nachdem wie er seine Hand über die Oberfläche führte. 
William beschrieb einen Kreis. Das Ding unter dem Leder folgte ihm. Dann zog er mit den Fingern eine diagonale Linie über die Mappe. Diesmal glitt der Gegenstand voraus. »Schon lustig«, amüsierte sich William. »Wie ein kleines Hündchen, das seinem Herrchen folgt. Nur, wie das Teil herausbekommen?«
Er überlegte kurz. Der Ledereinband war an den Seiten mit einem kräftigen Faden vernäht. Dort wäre die einzige Möglichkeit, das Teil herauszuholen, ohne die Mappe groß zu beschädigen. Später, ganz in Ruhe, würde er die Stelle mit Nadel und Faden wieder verschließen.
Eilig durchsuchte er seine Hosentaschen. Zunächst beförderte er einen alten Zahnstocher, dann eine abgebrochene Nagelfeile und etwas Schnur hervor. Auf den ersten Blick war damit nichts anzufangen, aber die Feile wies an ihrer Bruchstelle eine scharfkantige Ecke auf. Mit ein paar schnellen Schnitten trennte William den Einband etwas auf. Aus der Öffnung rutschte ein Schlüssel heraus und blieb auf seiner geöffneten Handfläche liegen. Das Licht des sonnigen Frühlingshimmels huschte über die mit Grünspan überzogene Oberfläche. Obwohl vom Schlüsselmacher filigran geschmiedet, wog er schwer in der Hand. Schlüsselbart sowie der Schaft waren eckig, sein Griff zu einem spitzwinkligen Dreieck gefertigt.
William erschrak. Unvermittelt bewegte sich der Schlüssel auf seiner Hand, stellte sich auf, vollführte eine Pirouette und sprang rüber auf die Mappe. Wie von einem Magneten angezogen, glitt der Schlüssel über das Symbol. Ein deutlich hörbares metallisches »Klacken« war zu vernehmen. Aus den vorher unscharfen Konturen trat jetzt erhaben ein Wappen hervor. Er schluckte. Ein Schweißtropfen ran ihm über die Stirn. Er schaute genauer hin, denn Wappen waren ihm nicht unbekannt. Die Grafschaften im Nordland besaßen alle ihre eigenen Wappenbilder. 
William erinnerte sich, wie er mit seinen Mitschülern das Thema im Unterricht durchgenommen hatte und im Anschluss daran die Burgruine besichtigte. 
Der Burgfried beheimatete zwölf in das Mauerwerk eingelassene Schreine. Jeder dieser Schreine besaß eine zweiflügelige Tür. Ein bekannter Künstler aus den Westländern hatte aufwendig in alle Türen die Schwingen eines Adlers geschnitzt. In das dichte Federkleid war jeweils das Wappen einer der zwölf Grafschaften des Nordlandes eingelassen. Dagegen war ihm das Wappenbild auf seiner Mappe, völlig unbekannt. Womöglich eine fremde Grafschaft außerhalb unseres Landes, überlegte er. Vielleicht gehörte es zu einem sehr alten, untergegangenen Herrscherhaus. 
Zwei sich kreuzende, silberne Schwerter auf blauem, mit Sternen gesprenkeltem Hintergrund, traten erhaben hervor. Oberhalb der Waffen standen zwei Rösser, ein weißes und ein schwarzes Auge in Auge einander zugewandt. Die Seiten des Wappens umrandete eine goldene Rosenranke. Unterhalb der sich kreuzenden Schwerter steckte der bronzene Schlüssel. 
William schaute sich um. Niemand zu sehen. Er holte Luft und drehte den Schlüssel behutsam herum. 
Die Mappe öffnete sich. 
Das Papier war von edelster Sorte. Die Blätter schimmerten in einem hellen Gelbton, waren gemustert wie Büttenpapier und fassten sich fest an. In der Mitte steckte ein Füller. Er war mit zwei gekreuzten, silbernen Schwertern verziert und glänzte smaragdgrün. Die goldene Feder war mit winzigen Zeichen versehen, die sich je nach Drehung veränderten. Es war ihm aber nicht möglich, diese zu entziffern, da sie für das menschliche Auge zu klein waren. Auf der Kappenspitze war ein Abbild des unbekannten Wappens aufgebracht. 
Der Füller besaß eine seltene Schwere, ähnlich der goldenen Münze, die er bei sich trug. Er lag sicher in der Schreibhand und ließ sich bei Berührung mit dem Papier federleicht führen. 
Um den Füllfederhalter zu testen, schrieb William ein paar Sätze in die Mappe. Schon beim Schreiben bemerkte er, dass der Füller von ihm Besitz ergriff und völlig eigenständig handelte. Er nahm wahr, wie die Feder seine Gedanken im Voraus erfasste und genau die Sätze, die in Williams Kopf existierten, aufs Papier übertrug.
Grundsätzlich hatte er beim Schreiben keine Probleme, Texte aufs Papier zu bringen. Das Ergebnis entsprach aber nie dem Original seines Fantasiegebildes. Und genau das war die Schwierigkeit beim Schreiben: Bilder, Texte und Dialoge, die im Kopf entstanden, genauso wiederzugeben. Schriftsteller lebten in ihrer eigenen Welt. In dieser Fantasiewelt war es eine Leichtigkeit Geschichten zu erfinden, Helden zu entwickeln und mit ihnen gemeinsam große Abenteuer zu bestehen. Das andere war harte, einsame, manchmal schweißtreibende Arbeit. Der Lohn eines erfolgreichen Geschichtenerzählers war der Applaus seines Publikums. 
Aber davon war William noch meilenweit entfernt. 

Erstaunt steckte er den Füller wieder zurück in seine Halterung. 
In die linke Innenseite der Mappe war eine Tasche eingearbeitet, die durch ein filigranes Schloss gesichert wurde. Dort klaffte eine runde Öffnung, in der sich das unbekannte Wappen widerspiegelte.
William kam eine Idee: Er zog ein weiteres Mal den Füller heraus und setzte die Kappenspitze in die runde Öffnung ein, sodass Wappen auf Wappen lag.
Ein zweites Mal an diesem Tag »klackte« es deutlich hörbar.
Nur dieses Mal klang das Geräusch nicht metallisch, eher wie das Öffnen einer alten, knarrenden Tür. 
Ein eisiger Lufthauch griff nach William und einen Moment lang war er irritiert. Mutig fasste er in die Tasche hinein und zog zu seiner Überraschung einen versiegelten Briefumschlag hervor.
William traute seinen Augen kaum: Der Brief trug seinen Namen.


An
William van Botterbloom
Burgfriedgasse 2
Dorf Greensen
Grafschaft Gandenthal

Ein Absender fehlte. Rasch brach er das Siegel, dessen Abdruck gleich dem des Wappens war, öffnete den Umschlag und entnahm ein vergilbtes Schriftstück.
William faltete den Brief auseinander. Die Schrift verlief zunächst gleichmäßig. Große verschnörkelte Buchstaben bildeten den Anfang eines jeden neuen Satzes. Gegen Ende gab es einige Aussetzer und die Schrift wurde krakelig.

Vermächtnis von Marlon Marcoon

An meine geliebte Vivien, tapfere Tochter!
Das Land, das wir so liebten, ist in tiefster Dunkelheit versunken.
Unachtsamkeit meiner brachte uns in diese Lage und weckte gefährliche Mächte.
Verbannung, Einsamkeit und Krankheit raffen mich dahin.
Die Erinnerungen an eine glanzvolle Zeit sind die einzigen Begleiter in den letzten Tagen meines Daseins.
Meine geliebte Tochter, ich anvertraue dir, eine goldene Münze, zu deren Hüterin du bist, berufen.
Nutze ihre Kraft mit Weitsicht und Verstand, und ihre magische Wirkung wird viele Jahrhunderte überdauern.
Bald wird dir ein Jüngling begegnen, der schon in früheren Zeiten mein Vertrauen besaß.
Überreiche ihm die Schreibmappe, die ich dir vor Jahren zur Aufbewahrung gab. Er wird wissen, was es mit ihr auf sich hat. Ich bitte dich, ihm zu vertrauen, und ihr werdet gemeinsam der Dunkelheit entfliehen. 
Ich wandle jetzt auf dunklen Pfaden dem ersehnten Licht entgegen. Das »Heilige Licht« wird mich führen. Dann werde ich den »Weißen Heiligen Ring der Magier« betreten und wieder zu dem werden, der ich immer war, ein großer Zauberer!

M.M.

»William, William, ist dir was passiert?« Onkel Nicholas kam keuchend angerannt. Die warme Mittagssonne, der steile Anstieg und die Sorge um William trieben ihm die Hitze ins Gesicht. Er war über und über mit Ruß beschmiert. Sein Hemd war Schweiß gebadet, an einigen Stellen zerrissen und den Hut hatte er verloren. Erschöpft warf er sich vor William ins Gras. Schwer atmend und auf dem Rücken liegend starrte er ins Blau hinauf. Langsam entspannte sich sein Körper. 
Schwerfällig drehte er sich auf die Seite und musterte William, der einen seltsamen Brief und eine Mappe in den Händen hielt. Kritisch wanderten seine Augen hin und her. Sein Blick verfinsterte sich. Mit einem Ruck war er auf den Beinen.
»Woher kommt diese Mappe?« Nicholas´ Stimme klang angestrengt.
»Von dem Gaukler. Ich habe sie gewonnen.«
»Du hast sie gewonnen? Wie das? Das Spiel war doch vorbei!«
»Weißt du, während ich auf dich gewartet habe, kam der Gaukler zu mir und bot mir ein neues Spiel an. Er zauberte eine goldene Münze hervor und ich durfte mir etwas wünschen. Ich habe mir natürlich eine Schreibmappe gewünscht«, erzählte William seinem Onkel, der mit versteinerter Miene zuhörte. Er kramte in seiner Hosentasche.
»Hier ist die Münze. Nach dem Spiel hat sie leider ihren Glanz verloren. Jetzt ist sie, wie ich vermute nichts mehr wert.« Er hielt ihm die Münze hin.
Mit zittriger Hand nahm Nicholas das Geldstück an sich. Schweigend betrachtete er die verblasste Münze. »Darf ich die Münze behalten, William?«, fragte er. »Ich glaube, dass du richtig vermutest. Sie ist bestimmt nichts mehr wert.«
»Sicher, behalte sie. Ich habe ja meine Schreibmappe«, stimmte William zu.
»Dank, mein Jong!« Nicholas ließ die Münze in seiner Westentasche verschwinden. Vorsorglich verschloss er die Tasche mit dem dafür vorgesehenen Knopf.
»Was ist das für ein Brief?«
»Den habe ich in der Mappe gefunden. Es ist etwas unheimlich, aber stell dir vor, er ist an mich persönlich adressiert«, sagte William. »Soll ich ihn dir vorlesen?«
»Nein, das wird nicht nötig sein. Ich kenne das Siegel und seinen Inhalt.«
»Woher? Sag, kannst du doch lesen?«
»Ja, das heißt nein, ach was, ich weiß nicht mehr, was ich sage.«
Nicholas stieß einen tiefen Seufzer aus und setzte sich zu William auf die Bank. Er wirkte nachdenklich. 
»Es handelt sich um eine uralte Saga«, brach er sein Schweigen. »Aber sie ist, und das ist meine Meinung - wahr. Die Geschichte von Sir Edgar T. Rose. Er war ein Ritter von Rang und wahrlich ein großzügiger Edelmann, dann ein Betrüger und später ein gedungener Mörder. Mit ihm kam die Zeit der Dunkelheit, sie brachte Elend und Kummer über dieses Land, Tod und Verwüstung und sie wird wieder kommen, die Zeit der Dunkelheit, wenn wir es nicht zu verhindern wissen. Die goldene Münze gehörte einst dem Zauberer Marlon Marcoon. Sie ist kostbar und galt lange als verschollen – bis heute! Deshalb werde ich sie gut aufbewahren.«
»Der Gaukler sagte«, erinnerte sich William, »dass die goldene Münze geheimnisvolle Kräfte besitzt. Aber was hat das alles mit mir zu tun?«
»Ich kenne da jemanden, der dir diese Frage beantworten wird.«
»Wer?«
»Linus Nix. Seine Familie hat über Generationen hinweg alle niedergeschriebenen Schriften aus jener Zeit gesammelt. Wir suchen ihn morgen auf, zeigen ihm die Schreibmappe, die Münze und den Brief. Er wird es uns bestimmt erklären können. Aber jetzt räum alles zusammen und lass uns gehen. Es ist schon weit nach Mittag. Wir müssen uns waschen und die Kleider wechseln und ich brauche endlich etwas zu beißen!«

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