
Fragen über Fragen
Lilian massierte sich ihr geschwollenes Handgelenk.
Aus einem kupferfarbenen Kessel, gefüllt mit einem dunklen, nach Kräutern duftenden Sud, fischte Vitus zwei tropfnasse Leinentücher heraus.
»Lass mich mal sehen, Lilian«, sagte Vitus, wrang die Tücher etwas aus und begann damit, das Handgelenk sorgsam zu umwickeln. »Sieht zwar nicht schön aus, aber es wird dir gleich Linderung verschaffen. Deinen Stock wirst du für einige Tage nicht benutzen können - wenigstens so lange, bis die Schwellung wieder abgeheilt ist. Na ja, und deine Laute leider auch nicht.«
»Welche Heilkräuter verwendest du?«, wollte Lilian wissen und sog den angenehmen Geruch ätherischer Öle in sich auf.
»Arnika montana aus den Gärten unseres Klosters und ein paar andere geheime Zutaten, die ich dir aber nicht verraten werde.« Vitus lächelte verschmitzt und beendete sein Werk, indem er das Ende des Leinentuchs mit einer klebenden Salbe befestigte.
»Fertig! So, nun muss ich mich um die anderen kümmern. Dein Vater hat eine dicke Beule davongetragen, ich allerdings auch.« Der Mönch berührte vorsichtig seine blau unterlaufenen Wangenknochen, dann sah er Lilian eindringlich an. »Ist schon seltsam, findest du nicht? Was hast du mit der persönlichen Leibgarde des Herzogs zu schaffen?«
»Keine Ahnung! Ich kann mir leider keinen Reim darauf machen.«
Vitus wirkte nachdenklich. »Zum Glück ist ja nicht viel passiert, außer ein paar blauer Flecken und ein wenig angekratzter Stolz.« Er deutete mit dem Daumen auf die kleine Gruppe junger Männer unweit des Lagerfeuers, die sich gegenseitig ihre Blessuren versorgten.
»Ja!« Lilian lächelte. »Weil sie von einem Mädchen Prügel beziehen mussten. Mit so etwas haben sie nicht gerechnet.«
»Nein, bestimmt nicht!« Vitus konnte seine Bewunderung, die er Lilian entgegenbrachte - und die von Minute zu Minute wuchs, nicht verbergen. »Du kannst Eligius dankbar sein, dass er sich so mutig zwischen dich und deine Gegner geworfen hat.«
»Es hätte für uns alle schlimm enden können«, gab Lilian zu. »Zum Glück hatte Eligius blitzschnell erkannt, dass es sich nicht um Räuber, sondern um die Leibgardisten des Herzogs handelte. Meine Angreifer hatten versucht, ihre Dolche aus dem Schaft zu lösen, um mich damit zu verletzen. Das scheint nicht zu funktionieren, wenn sich die gleichen Stockwaffen duellieren. Scheinbar ein geheimer Schutzmechanismus. Was dann mit den Waffen passiert, haben wir ja erlebt. Ich war nicht mehr in der Lage, den Stock zu halten. Eligius erzählte mir, dass er sich bei seinen Besuchen im Schloss des Herzogs von Harrington einmal verlaufen habe, und dabei war er durch Zufall auf die Leibgarde gestoßen. Eligius beobachtete, wie einige der Kämpfer in einen Stockkampf eingewiesen wurden. Das muss ihn wohl sehr beeindruckt haben. Er blieb so lange, bis man ihn entdeckte und des Platzes verwies.«
»Wo hast du den Stock überhaupt her?«, wollte Vitus wissen.
»Von Vince, meinem Ziehvater. Er war derjenige, der mich in der Anwendung dieser Waffe unterwies und mir den Stockkampf lehrte. Diese Art von Kampfkunst hat mir schon oft gute Dienste erwiesen.«
»Wo lebt dein Ziehvater?«
»Im Norden unseres Landes, am »Stillen See«, dort, wo meine Heimat ist. Er lebt heute mit meiner Mutter zusammen; früher war er mal ihr Stallbursche gewesen. Mein Vater müsste ihn kennen.«
»Nun gut«, sagte Vitus und erhob sich. »Doch jetzt muss ich mich erst einmal um deinen Vater kümmern. Ruh du dich ein wenig aus.« Und mit diesen Worten ging Vitus zu Herdan hinüber. Eligius war bei ihm. Er hockte neben dem bewusstlosen Grafen und klatschte ihm abwechselnd rechts und links ins Gesicht.
Allmählich spürte Lilian, wie die von Vitus verabreichten Kräuter ihre volle Wirkung entfalteten. Eine wohltuende Wärme verbreitete sich unter dem Verband und überraschend schnell wich der Schmerz aus ihren Gelenken. Behutsam begann sie, ihren Rucksack zu öffnen, und entnahm ein fein säuberlich gefaltetes Baumwolltuch, das sie auf dem Waldboden ausbreitete, um die Laute darin einzuwickeln. Sie war froh, dass dem Instrument bei dem Angriff nichts passiert war, denn zu viele Erinnerungen verband sie mit ihr. Im Laufe der Jahre, indem sie voller Neugierde die Vielfalt dieses wundervollen Instrumentes erforschte, um ihr Spiel zur Perfektion zu führen, war sie eins mit der Laute geworden. Genauso wie mit ihrer Heimat - dort wo ...
Lilians Entscheidung
Spätsommer im Jahre 103, nach dem Zerfall der Alten Welt ...
... die Tage am »Stillen See« kamen und gingen - die Einsamkeit aber blieb. Nirgendwo auf dieser weiten Welt konnte man Stille so sehr fühlen, sie so sehr riechen und schmecken, wie an diesem magischen Ort. Auch seit Herdans Weggang vor drei Jahren hatte sich daran nichts geändert.
Die einstige kleine Ansiedlung baufälliger Behausungen war zu einer ansehnlichen Gemeinde herangewachsen. Die wackeligen Fischerhütten, Scheunen und Werkstätten, die zur damaligen Zeit das Ufer des »Stillen Sees« säumten, waren festen Häusern aus weißem Stein mit sonderbar geschwungenen Dächern aus runden Holzbalken und farbigen Ziegeln gewichen. Ihr Anblick erinnerte an Wellen bunter Frühlingsblumen, eingebettet in eine grüne Wiese - frei und unbeschwert. Ein gepflasterter Marktplatz bildete zusammen mit einer Kapelle den Mittelpunkt des Dorfes. Die ehemals brachliegenden Felder erstreckten sich jetzt fruchtbar bis hinauf zu der kleinen Anhöhe, wo einst Herdan auf seinem Rappen, müde und ausgehungert - den Geist dieses Ortes beschwor. Nur an dem alten Wirtshaus, früher geheime Zufluchtsstätte der verwegensten Gestalten, schien die Zeit der Veränderung traurige Spuren hinterlassen zu haben. Der Hof, die Ställe lagen verwaist. Kein fröhliches Gelächter, kein Grunzen und Schmatzen drang durch die Fenster nach draußen. Der sonst so belebte Ort »Zur Fröhlichen Einkehr« schien von den Menschen vergessen - verloren im Fortschritt der Zeitenwende. Aber sein Zauber war geblieben.
Ein sanfter Wind trug die melodischen Klänge einer Laute bis weit über den See. Als sie verstummte, herrschte wieder jene Stille, die dem See seinen Namen gab.
»Du spielst wunderschön!«
Lilian sah sich um. Hinter ihr lehnte ein Mann mittleren Alters gegen den Stamm einer Eiche.
»Hallo, Vince! Ich habe dich gar nicht kommen gehört!«
»Warum singst du nicht dazu?«
»Ich mag nicht.« Lilian starrte auf das kristallklare Wasser. Kleine Wellen kräuselten sich im Wind.
»Schade, du hast eine kraftvolle und klare Singstimme. Sie passt vortrefflich zu deinem Lautenspiel.«
»Ich hebe sie mir für später auf«, entgegnete Lilian trotzig.
Ihre Augen wanderten hinauf zu den fernen Gebirgszügen. Vince folgte ihrem Blick. Keiner der beiden sprach ein Wort. Er wusste nur zu gut, wie er sich gegenüber Lilian zu verhalten hatte. Jetzt, in diesem Augenblick, war es besser zu schweigen.
»Immer, wenn ich hier sitze, Vince, frage ich mich, wer wohl jenseits dieses Gebirges lebt? Und ich denke darüber nach, ob sie uns wohlgesinnt sind. Und dann, an manchen Tagen, wenn die Luft so rein und so klar ist wie heute, beobachte ich, wie sie sich auf den weißen Dächern der Berge versammeln. Die Klänge meiner Laute scheinen sie anzuziehen und lassen sie meist für Stunden verweilen.«
Lilians Stimme klang zusehends belegter. Vince bemerkte, wie sie sich eine Träne von ihrer Wange wischte. Aber er schwieg, so wie er es immer tat, wenn Lilian versuchte, ihre gemeinsamen Gespräche auf das geheimnisumwitterte Land hinter dem »Stillen Gebirge« zu lenken.
»Vince, muss ich mir Sorgen machen?«
»Nein, die Bewohner dort spüren genau, dass hier Menschen leben, die friedliebend sind. Du musst dich nicht unnötig sorgen, Lilian. Hinter dem Gebirge gibt es niemanden, der dir gefährlich werden kann.«
»Ich weiß, dass du schon einmal dort gewesen bist.«
»Hat dir das deine Mutter erzählt?«
Lilian nickte und nach einer Pause fügte sie hinzu: »Und ich weiß jetzt, dass Graf Herdan mein Vater ist!«
»Das hat sie dir erzählt?« Ernüchterung lag in seiner Stimme.
»Warum bist du geblieben? Wir haben alles verloren. Du hättest gehen können.«
»Wie du weißt, bin ich hier am See geboren, genauso wie du. Und ich wollte nie in meinem Leben woanders sein.«
»Aber das ist nur die halbe Wahrheit.« Lilian drehte sich zu Vince um.
»Wie meinst du das?«
»Du liebst sie! Du hast sie immer schon geliebt - auch als mein Vater hier bei uns lebte.«
»Ja, es stimmt. Ich liebe deine Mutter.«
»Es muss ein schwerer Schlag für dich gewesen sein. Als mein Vater hier einzog, bist du bald darauf gegangen.«
»Du bist gut informiert.«
»Ich beobachte! Aber die Gewissheit, dass Herdan mein leiblicher Vater ist, trage ich schon lange in mir. Meine Mutter scheint glücklich mit dir zu sein, und das stimmt mich froh.«
Ein Lächeln huschte über Vince´ Gesicht. Liebevoll beugte er sich vor und legte ihr seine Hand auf die Schulter. Lilian erwiderte die Geste, indem sie mit ihrer Wange seine Hand kurz berührte.
»Warum hast du mich nie persönlich angesprochen? Du hast mir zuliebe die ganze Zeit geschwiegen?« In seinen Worten klang ein Hauch von Verwunderung mit.
»War das falsch? Ich hatte Angst, dich auch noch zu verlieren!«
»Ich hätte euch nie verlassen, Lilian!«
Ihr Blick richtete sich wieder zum See. Lilian schwieg. Vince beschlich ein vager Verdacht. »Was hast du jetzt vor?«
»Ich bin eine Lautenspielerin. Ich werde auf die Wanderschaft gehen!« Die Antwort klang so selbstsicher, dass Vince der Atem stockte.
»Du setzt dich einer großen Gefahr aus!«
»Nicht minder gefahrvoll als deine Wanderung über das Gebirge dort!«
»Ich war ein törichter, junger Mann.«
»Nein, du warst verliebt!«
»Mag sein, dass mich die Liebe zu deiner Mutter vorantrieb. Aber das ist lange her. Sag mir, Lilian, was treibt dich an, dass du dich auf eine so abenteuerliche Reise begeben willst?«
»Ich werde ihn suchen, ihn finden - und dann zur Rechenschaft ziehen. Er hat uns alles genommen. Er muss für das Leid, das er uns angetan hat, büßen! Er wird mir nicht entkommen! Dieses ist schon seit Langem mein vorbestimmtes Schicksal!«
Vince verstand und schwieg. Er würde Lilian nicht aufhalten können. In den vergangenen zwei Jahre war sie seine gelehrige Schülerin gewesen und er ihr geduldiger Lehrmeister. Er wusste, dass sie sich in der Welt da draußen behaupten würde. Sein Gewissen war rein, sein Gefühl ausgeglichen und es überraschte ihn nicht, wie wenig er dagegen zu setzen hatte. Warum auch, er hatte sein Ziel fast erreicht.
»Und deine Mutter?«
»Sie ist einverstanden!«
»Sie ist einverstanden?«, wiederholte Vince misstrauisch.
Sie hielt inne.
»Du hast es ihr nicht erzählt!«
Lilian schaute Vince mit ihren wasserblauen Augen flehentlich an.
»Mach du es für mich«, bettelte sie, »Bitte, Vince!«
»Diesen Augen kann ich nichts abschlagen.« Er lächelte und nach kurzem Nachdenken fügte er hinzu: »Ich mache es! Du musst mir aber eins Versprechen: Du warst stets eine gelehrsame Schülerin und ich habe dir vieles beigebracht. So gib auf dich Acht, nutze dein Wissen und setze deine geheimen Kräfte klug ein. Wirst du das tun, Lilian?«
»Ja, ich verspreche es!«
Lilian sprang auf und küsste Vince auf die Wange. Rasch nahm sie ihre Laute und lief eilig über den Hof zum Wirtshaus hinüber.
»Ach, junge Frau!«, rief Vince hinter ihr her. Aber Lilian war schon außer Hörweite und sprang die vier Stufen zur Veranda empor. Schon war sie in dem alten Haus verschwunden.
Vince schloss die Augen. Die beruhigende Stille des Sees umfing ihn. Ein urplötzlich aufkommender kalter Wind erfasste sein dichtes, dunkelblondes Haar und riss ihn aus seiner Versunkenheit. Langsam hob er den Kopf. Durch den Schleier seiner Wimpern erspähte er weit oben auf den schneebedeckten Bergen eine kleine Ansammlung von Reitern, nicht größer als Ameisen, aber für seine Augen gut erkennbar. Er wusste, sie kamen aus dem fernen Land hinter dem »Stillen Gebirge«. Er war sich so sicher, wie der Tag sich dem Abend neigt - so sicher, wie sich die Nacht dem Morgen beugt.