Geheimnisvolles Gandenthal

Im Glockenzimmer

William saß auf der Mauer einer Fensternische gegenüber dem Glockenzimmer und ließ die Beine baumeln. Schweigend beobachtete er die Männer bei ihrer Arbeit. Eine enorme Anspannung lag in der Luft, die ihn verblüffte. In seiner jugendlichen Fantasie kamen die Feldhüter immer als unerschrockene, kraftstrotzende Burschen daher, die jede Situation richtig einzuschätzen wussten, und die nichts und niemand aus der Fassung bringen konnte. Wie Fantasie und Realität sich doch unterschieden! Er fragte sich, ob sie die Sicherheit dieses Ortes anzweifelten. Es gab keinen Schlüssel, keine Möglichkeit, die drei Gefangenen bedenkenlos wegzusperren. Lediglich eine rostige Gittertür mit eng stehenden, schmiedeeisernen Stäben – nicht einmal richtig verschlossen – trennte das Glockenzimmer vom übrigen Raum.
Selbst unten im Dorf existierte kein richtiges Gefängnis, sondern nur eine kleine Zelle im Gerichtsgebäude, die von den Dorfbewohnern das Hundeloch genannt wurde. Sie war eng und muffig. Nur ab und zu verlief sich jemand im Rausch dort hin. Völlig harmlose Vergehen, die stets für Heiterkeit unter den Einheimischen sorgten. Wie mit Raubgesindel und Banditen zu verfahren war, da waren alle hier unerfahren.

William versuchte, den Gedanken zu vergessen. Überrascht stellte er fest, dass seine Hände anfingen, zu schwitzen. Kurzerhand wischte er sie an der Hose trocken.
»Mach dir keine Sorgen, William!« Pit, der vorüberkam, klopfte ihm freundschaftlich auf die Schulter.
»Mach ich mir nicht!«, platzte es aus William heraus.
»Ach ja? Na gut! Du sahst aus, als hättest du einen Schreck bekommen.«
William sah den Feldhüter an. Breitschultrig, groß und kräftig stand er vor ihm, doch in seinen jungen Augen spiegelte sich die Unerfahrenheit wider.
»Hast du denn gar keine Angst?«, fragte William.
Pit beugte sich vor. »Und ob! Eine Schweineangst!«, antwortete Pit wahrheitsgemäß und ein gequältes Lächeln huschte über sein Gesicht. »... aber, das ist ja normal. Angst hat etwas Gutes. Sie hilft dir, die Situation richtig einzuschätzen. Nur wenn du deine Angst akzeptierst, sie bewusst wahrnimmst, nur dann bist du Herr der Lage.«
»Und, bist du Herr der Lage?«
Pit schaute sich um. Er sah Linus und Patrick, wie sie die Gefangenen auf ein Strohlager legten. Die drei Bogenschützen stanken fürchterlich. Linus hielt sich die Nase zu. Sein Gesicht war hochrot.
»Ich weiß nicht. Ich denke schon. Aber es hilft, einen Freund an seiner Seite zu wissen, wenn du weißt, was ich meine?«
William verstand. »Ihr habt die Lage nicht im Griff, oder?«, fragte William leise.
»Mag sein. Aber wenn man’s sich oft genug sagt, fängt man irgendwann an, es zu glauben.«
Beide sahen sich schweigend an. Beklommenheit stieg in William auf und dann züngelte die Angst wie Feuer durch seine Eingeweide. Er schluckte schwer. Bisher war er nie mit Gefangenen in Berührung gekommen und es beschlich ihn das Gefühl, dass die Angst ab dem heutigen Tag sein ständiger Begleiter sein würde.
»Was hast du da?« Pit zeigte auf die Mappe, die neben William auf der Mauer lag.
»Das ist meine neue Schreibmappe.«
»Darf ich mal sehen?«
»Ich weiß nicht recht.«
»Denkst du, ich brenn damit durch?«
»Nein, aber mein Onkel hat gesagt, dass ich sie nicht aus den Händen geben darf.«
»Was ist denn da so Besonderes dran?« Pits Augen bekamen einen seltsam hellen Glanz, der William nicht gefiel. 
»Nichts, aber ich habe es versprochen, Pit!«
»Na gut. Ich verstehe. Du traust mir nicht!«
»Quatsch, natürlich traue ich dir. Nur ich halte meine Versprechen ein.«
Der junge Feldhüter wirkte beleidigt.
»Also, du traust mir nicht wirklich, oder?«
In Williams Kopf arbeitete es. Pit versuchte, ihn in die Enge zu treiben.
»Wenn du mein Freund bist, dann frag bitte nicht weiter, in Ordnung?«
Pit nickte und schwieg.
Im Hintergrund sah William, wie Patrick einen großen Strohballen auf seinen Schultern die enge Treppe herauf wuchtete. Dumpf polternd ließ er ihn fallen. Er ächzte und schwitzte. Sein weißes Hemd war schmutzig, am Rücken klaffte ein Riss im Stoff und in den Haaren steckten einige goldene Halme.
»Was ist, wenn sie aufwachen? Was macht ihr dann mit ihnen?«, nahm William das Gespräch wieder auf.
Der junge Feldhüter überlegte.
»Wir nehmen sie in die Mangel«, sagte er düster. Richter Robert wird sie aburteilen und dann wohl nach Burg Wolfenstein verfrachten. Dort gibt es tiefe, dunkle Verliese, wo sie hoffentlich für den Rest ihres Lebens wie Ratten im Keller ihr Dasein fristen werden.«
»Bei Wasser und Brot!«, fügte Patrick schnell hinzu, der sich anschickte, von unten einen weiteren Ballen heraufzuholen. »Ach, Pit, bevor ich es vergesse«, rief er spitz und zeigte in Richtung der Treppe, »da unten stehen zwei Strohballen und warten auf dich!«
Pit winkte ab.
»Ja, geht gleich los. Geh du schon vor, ich komme nach.«
Patrick stampfte davon.
»Komm, ich zeige dir etwas«, sagte Pit und zog William mit sich. Aus dem Glockenzimmer schlug ihnen ein modriger Gestank entgegen. William rümpfte die Nase.
»Warum muffeln die denn so?«
»Keine Ahnung!«, erwiderte Pit.
»Die riechen, als kämen sie direkt aus einer Gruft«, murmelte William mit verzogenem Gesicht.
Linus kam zu ihnen herüber. »Ich wusste doch, dass ich diesen Geruch von irgendwoher kenne. Vom Friedhof! Meine Urahnen liegen da in einer Gruft. Dort riecht es genauso. Nur leider sind sie schon lange mausetot.«
»Aber diese Drei hier sind ziemlich lebendig, wenn sie nicht gerade schlafen.« Pit lachte verschmitzt.
»Jetzt macht Platz«, drängte Linus, »ich muss die Tür verschließen!«
William und Pit traten ein paar Schritte zurück. Laut quietschend fiel die schwere, eiserne Tür ins Schloss.
»Das geht einem ja durch Mark und Bein«, stöhnte Patrick. »Ein Schloss ohne Schlüssel. Und was machen wir nun?«
»Mit irgendetwas die Tür verriegeln. Am besten mit einem kräftigen Stock oder einer dicken Holzbohle.« Linus schaute sich suchend um. Kopfschüttelnd stieg er die Treppe ins Untergeschoss hinab. Er murmelte etwas von »er würde das Richtige finden und wartet ab, ich mach das schon.« Dann war er verschwunden.
»Was wolltest du mir eigentlich zeigen, Pit?«, fragte William.
»Ich wollte dir beweisen, dass sie uns nichts anhaben können«, antwortete Pit.
»Im Augenblick, ja, aber was ist, wenn ...?« William hielt kurz inne. Es war nur so ein Gedanke, der ihm schon eine ganze Weile durch den Kopf ging. Ein Gedanke, den er am liebsten sofort wieder verworfen hätte. Er ärgerte sich über seine schnelle Zunge.
»Du fragst dich, ob sie uns wieder entwischen könnten?«, führte Pit Williams Gedanken zu Ende.
»Ja, genau.«
»Das werden sie schon nicht.«
»Und wenn doch?«
»Das wird nicht passieren!«

Nächstes Kapitel

Buch kaufen