Geheimnisvolles Gandenthal

Gefangen in der Hünenburg

Andy schritt die Reihe der Gefangenen ab, die von einem Dutzend Männer, alle ungefähr in seinem Alter, mit Pfeil und Bogen in Schach gehalten wurden. 
Er zählte zwei dunkelhaarige Kriegerinnen, mit Pfeil und Bogen bewaffnet und vier weitere »Möchtegernkrieger«. Die beiden Mädchen sahen aus wie richtige Amazonen. Ihre lockigen Haare waren zu einem Zopf nach hinten gebunden und ihre Augen schimmerten grünlich wild und Kampf begierig. Dass von ihnen eine deutlichere Gefahr ausging, war unübersehbar. Auf ein Zeichen von Andy hin wurden sie kurzerhand von seinen Leuten entwaffnet. Nur Zwillen und Weidensteine fanden sie bei keinem von ihnen.
Die Kleidung der Gefangenen beeindruckte ihn weitaus mehr. Pfeil und Bogen besaßen sie ja selbst. Er sah genauer hin. Die Mäntel dieser sechs ulkigen Figuren passten sich auf sonderbarerweise den Farben des Waldes an. Bei näherer Betrachtung verschmolzen sie mit der Umgebung oder wirkten durchscheinend. Er zweifelte keine Sekunde daran, dass es sich dabei um ein spezielles Material handelte, was ihm persönlich unbekannt war. 
»Mal sehen«, überlegte er, »vielleicht wird ja einer von denen mir seinen Tarnanzug ausleihen. Vorher müsste ich dann ein wenig schrumpfen.« Er lachte leise über seinen kleinen Witz. »Trotzdem kein schlechtes Ergebnis für einen so frühen Morgen, wenn man die tölpelhaften Feldhüter mit dazu zählte.«
Andy blieb vor Ulrich stehen. Tippte auf dessen übergroßen Hut, denn mehr war für ihn nicht zu erkennen. Er überragte Ulrich mühelos um eineinhalb Köpfe.
»He, du da, mit dem zu groß geratenen Hut! Jemand zu Hause?«
Ulrich sah auf und seine smaragdgrünen Augen blitzten vor Wut. Aber Andy beeindruckte das nicht weiter. Hier im Erlengrund war er der Herr im Hause.
»Dich kenn ich doch! Du bist der Geselle mit der schnellen Zwille. Hab noch immer Kopfschmerzen von deinen tückischen Steinen.«
»Und du da!« Ein Schritt weiter stand William.
»Was hast du hier zu suchen, van Botterbloom?« So wie Andy Williams Namen aussprach, klang es abgrundtief verächtlich. »Hat dir die Abreibung von gestern nicht gereicht?«
William schwieg.
»Passt auf!« Andy trat zwei Schritte zurück, um die Gruppe komplett in Augenschein zu nehmen.
»Habt ihr wirklich geglaubt, dass wir euren Aufenthalt im Erlengrund nicht bemerken? Wie einfältig seid ihr eigentlich? Der Erlengrund gehört uns und ihr habt hier nichts, aber rein gar nichts verloren. Also, was wollt ihr hier?«
Schweigen schlug ihm entgegen.
»In Ordnung! Ihr bleibt stumm! Macht nichts! Wir werfen euch alle zusammen in den Schlund. Dann stört ihr uns nicht mehr!«
Andy gab seinen Leuten einen kurzen Wink und sie wurden von der Lichtung weggeführt. 
Das Letzte, was William sah, waren Linus und Pit am Boden liegend. Halb verdeckte das hohe Gras ihre schlafenden Körper. Er hoffte auf ein Lebenszeichen, ein verstecktes Signal von den beiden. Dabei ahnten die Feldhüter nicht, dass er mit den Weidenreitern im Erlengrund unterwegs war. Wie konnte er da auf ihre Hilfe hoffen? Niemand würde ihn und seine Freunde jetzt aus dieser Situation befreien. Es sei denn, es geschähe ein Wunder. Ihr Schicksal schien besiegelt. Und als würde der alte Elefantenbaum jenes erahnen, neigte er zum Abschied sein Haupt, so wie er es immer tat, stets mitfühlend, denn sein Schicksal hatte sich schon vor langer Zeit erfüllt.

Je tiefer sie in den Wald eindrangen, um so mehr veränderte dieser sein Aussehen. Das Blätterwerk wurde dichter, der Weg holpriger. Äste knackten ungewohnt laut unter ihren Füßen. Die Stimmen des Waldes verstummten. Das sonst so satte Grün der Blätter nahm eine hässliche Graufärbung an. Ihre Schatten wurden mit jedem Schritt länger und länger. Schließlich verblassten sie im letzten Rest des einfallenden Lichtes. Der Wald und sie selbst durchlebten eine unheimliche Wandlung. Ihre Finger, Hände, Arme und Gesichter schimmerten in einem silbrigen, schmutzigen Grau. Die Tarnmäntel hingen wie stumpfes, nasses Leder schlaff an ihnen herunter. Nur ihre Augen behielten jenen grünlichen Glanz. William kam sich vor, wie in einem Gruselkabinett, nur dass er dieses Mal nicht zu den Besuchern gehörte.
Andy schlug einen verschlungenen Pfad ein, der sie an einer mit Efeu und Moos überwucherten Mauer entlang führte. Zunächst nahm William die Steinwand nicht wahr, doch dann stockte ihm der Atem. Die Mauer war gigantisch. William schätzte ihre Höhe auf mindestens zehn Manns hoch.
»Das muss die Hünenburg sein«, flüsterte William Ulrich zu, der unmittelbar vor ihm ging. »Ist sie nicht schon längst verfallen?«
»So kann man sich täuschen«, knurrte Ulrich zurück.
»Ja! Aber ich weiß, dass …«
»He, ihr beiden da!« Schroff ging Andy dazwischen. »Klappe halten! Verstanden!«
Wenige Augenblicke später führte der Weg um die Mauer herum und fiel dann steil nach unten ab. Alle rutschten und stolperten den Abhang hinunter, der in einem weitläufigen Graben mündete. 
Von hier unten wirkte die Mauer noch überwältigender. Ihre Höhe hatte sich schlagartig verdoppelt und William wurde gewahr, wo sie sich gerade aufhielten. Sie standen in einem riesigen, ausgetrockneten Graben. Es war der künstlich angelegte Wassergraben der Hünenburg. Umschlungen von einem Geflecht aus Efeu, Dornenzweigen und wildem Wein hing in einiger Entfernung die heruntergelassene Zugbrücke. Ihr Anblick, getaucht in dieses unwirkliche, silbergraue Licht, wirkte bizarr und schauerlich. Mit geschultem Blick stellte William fest, dass sich die gesamte Anlage in einem eindrucksvollen Zustand befand. Das hier war eine richtige Festung. Nur das Wasser im Burggraben fehlte. 
Andy trieb seine Gefangenen voran. Er hatte es jetzt eilig. Sie gelangten unter die Zugbrücke und William erahnte, was gleich folgen würde, denn mit alten Burgen kannte er sich aus. Er beobachtete, wie Andy sich einer unscheinbaren, in das Mauerwerk eingelassenen Pforte näherte. Mit einem kräftigen Tritt stieß er die Tür nach innen auf. Ein schwarzes, stinkendes Loch gähnte ihnen entgegen. Ehe sie sich versahen, wurden William und seine Freunde wortlos gepackt und mit grobem Griff kopfüber in die Öffnung geworfen. Jedweder Widerstand war zwecklos.
Für William schien es endlos abwärtszugehen. Kälte, eisige Kälte griff nach ihm. Er rang nach Luft. In seinem Kopf brauste es.
Und dann fühlte es sich so an, als würde er schweben.

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