
Ein später Gast
Winter im Jahre 102, nach dem Zerfall der Alten Welt ...
In dem offenen Kamin sprühten die Funken, als Nicholas einige Holzscheite in die dunkelrote Glut nachwarf. Wild tanzend wirbelten sie wie Glühwürmchen empor, um in der Tiefe der Dunkelheit zu verglimmen. Nachdenklich zog Nicholas an seiner Pfeife. Paffend malte er grünliche, runde Rauchzeichen in die Luft. Herrlich duftender Tee dampfte aus dicken Keramikbechern.
»... und Henricus ist sich sicher, dass er sich nicht getäuscht hat?«
Der Angesprochene schlürfte vorsichtig an seinem Trunk. Vor Kälte zitternd hielt er den Becher mit beiden Händen fest umklammert. Nur langsam schien ihn die wohlige Wärme der Hütte zu durchdringen. Sein Gesicht lag im Schatten verborgen; nur ab und zu flackerten Lichter auf, umspielten seine scharf geschnittenen Gesichtszüge.
»Er ist sich sicher, Nicholas. Henricus wäre fast erfroren. Er stürzte auf der Straße, nur mit Nachtgewand und Morgenmantel bekleidet. Weit nach Mitternacht ist er dann wieder aufgewacht. Der fallende Neuschnee muss ihn geweckt haben.«
»Der arme Kerl! Wie geht es ihm?«
»Er erholt sich nach und nach. Ich befürchte jedoch, er wird dieses Ereignis sein Lebtag nicht mehr vergessen.«
Nicholas nickte stumm, zog wiederholt an der Pfeife und schaute lächelnd zu Robert hinüber. Dabei galt sein Lächeln nicht der soeben beschriebenen Begebenheit, die Henricus Böck in der fraglichen Nacht widerfahren war. Nein, er freute sich über die Anwesenheit seines späten Gastes.
Die Muskeln des Richters entspannten sich. Die eisige Kälte schien vollends aus seinem Körper entwichen zu sein und er lehnte sich tief in den gemütlichen Sessel zurück.
»Weißt du, Nicholas, es ist doch immer wieder erstaunlich, welch wärmende Kräfte in so einem Gesöff stecken. Man nehme ein paar Kräuter, gieße ein wenig heißes Wasser hinzu und fertig ist das Zaubergetränk. Die Natur ist die beste Medizin.«
Und nach einer kleinen Pause fügte Robert schwärmerisch hinzu: »Mein Freund, du bist zu beneiden. Deine Hütte hier ist ein wunderbarer Rückzugsort.«
In diesem Punkt hatte er recht. Die Berghütte liegt geschützt auf einer Anhöhe zwischen zwei Wäldchen aus dichtem Tannenwerk, mit Blick auf die »Weißen Klippen« des Weidenthals.
Seit jenem schweren Unwetter trafen sich die beiden Männer in gewohnter Regelmäßigkeit. Meistens lagen nur wenige Wochen zwischen ihren Treffen. Sie genossen es, sich bei einem guten Tee, alte und neue Geschichten zu erzählen. Der Richter war schon weit in der Welt herumgekommen und die Berichte seiner durchlebten Abenteuer schienen unerschöpflich.
»Ich habe noch nie so dicke Schneeflocken wie heute Abend gesehen.« Vorsichtig pustete er in seinen dampfenden Becher. Die Oberfläche der Flüssigkeit beschrieb kleine, runde Wellen.
»Der Schnee kommt dieses Jahr recht früh«, stellte Nicholas fest.
Robert rührte mit einem Löffel in dem Tee. Dann ließ er ihn abtropfen und legte ihn vor sich auf die Tischplatte.
»T. R. soll im Haus gewesen sein.«
»Im Haus? Wie ist T. R. da hineingekommen?«
Sein Gegenüber zuckte ratlos mit der Schulter.
»Sie wissen es nicht.«
»Sie?«
»Ja, Linus und Pit haben die Ermittlungen übernommen. Ich habe sie darum gebeten.«
»Was haben die Feldhüter mit diesem Vorfall zu tun?«
»Ich wollte nicht, dass die Sache an die große Glocke gehängt wird.«
»Ich verstehe!« Nicholas überlegte. »Also, nur die Feldhüter, Henricus, du und nun auch ich, wissen von dieser Sache?«
Robert nickte.
»Da ist aber noch etwas!«
»Jetzt machst du mich neugierig!«
»Henricus wird deinem Schwager Lohmis das alte Haus übergeben.«
»Die Zeit ist gekommen!«
»Fürwahr! In gut zwei Wochen wird er mit William dort einziehen. Er wird zum Schließer ernannt. Der Herzog hat es so entschieden.«
»Es ist die richtige Entscheidung! Er wird eine neue Aufgabe bekommen und das wird dem alten Lohmis guttun!«
»Das ist ebenfalls meine Einschätzung. Und ganz nebenbei, du sollst dort mit einziehen!«
Der Blick von Nicholas verfinsterte sich.
»Hat der Herzog das etwa auch entschieden?«
»Nein, ich bitte dich als dein Freund darum.«
Nicholas schwieg und kaute nachdenklich am Mundstück der Weidenpfeife.
»Du bittest mich als Freund darum?«
»Ja!«
»Ich konnte Lohmis bisher nicht wirklich helfen. Ich tauge nicht zu einem guten Schreiner. Wir hatten es eine Zeit lang gemeinsam versucht, aber …!« Nicholas hielt inne.
»Du machst dir Vorwürfe, wieder einmal versagt zu haben, stimmt´s?«
»Es ist dir ja bekannt, wie ich darüber denke. Ja, ich habe wieder versagt«, stellte Nicholas verbittert fest.
»Dann solltest du dir mit William große Mühe geben. Du weißt, er braucht dich!«
»Ich weiß! Ich weiß nur zu gut, dass er mich braucht. Lohmis ist jähzornig, ungeduldig ..., ach!«
»Er ist unglücklich«, unterbrach Robert ihn leise.
»Ja!« Nicholas winkte ab. »Das kommt noch hinzu.«
»Und, wirst du es machen wollen?« Ein fordernder Unterton schwang in der Frage mit.
Aber die Antwort ließ auf sich warten ...