Geheimnisvolles Gandenthal

Im Erlengrund

Im Schutze der morgendlichen Dämmerung verließen sie die Bibliothek. Kasper setzte sich sofort an die Spitze und flog Veda, Ulrich und William voraus. Niemand wechselte ein Wort, nur hin und wieder tauchte der Milan auf und rauschte über ihre Köpfe hinweg.
In der Bibliothek hatte William seine Kleidung gegen die der Weidenreiter getauscht, die sein Onkel in einem begehbaren Schrank hinter einem der Bücherregale versteckt hielt. Die Auswahl war riesig und sie hatten etwas Zeit benötigt, um für William das Passende herauszusuchen. 
Die Gewänder, die Veda ihm präsentierte, waren dünn und leicht wie Seide, vollkommen anschmiegsam und warm. Der Stoff verlieh einem das Gefühl, so gut wie nichts am Leibe zu tragen. Wenn er an sich hinunterblickte und sich dabei staunend betrachtete, sah er aus wie einer von ihnen und das erfüllte ihn mit Würde. Was für eine geheimnisumwobene Welt und er gehörte ab sofort dazu.
Zum Schluss hatte ihm Veda eine Zwille mit einem rötlich schimmernden Lederbeutel überreicht.
»Nur wenn Gefahr droht«, hatte sie gesagt und ihn dabei sanft umarmt. »Nun komm, es beginnt unser erstes gemeinsames Abenteuer!« William schmolz dahin. Wie berauscht stand er neben sich, als er ihren süßlichen Duft wahrnahm. Ein äußerst ungünstiger Zeitpunkt, sich dem Verliebtsein hinzugeben.

Nach zwanzig Minuten Wegstrecke erreichten sie den Bahndamm. Anstatt die nahe Tunnelunterführung zu benutzen, stiegen sie kurzerhand die steile Böschung empor. Die Szene, die sich ihnen jetzt bot, wirkte auf den ersten Blick gewaltig, dann bei näherem Hinsehen unheimlich und bedrohlich.
Wie ein undurchdringlicher Wall standen die dunklen Umrisse des Erlengrunds vor ihnen, nur unterbrochen von der Monotonie der im Mondschein silbrig schimmernden Gleise, die sich wie eine Leuchtspur am Rande des Waldes entlang zogen.
»Sieht nicht gerade einladend aus«, bemerkte Ulrich. »Die Kerle haben es in den letzten Monaten echt verstanden, den friedlichen Erlengrund in einen Ort des Schreckens zu verwandeln.  Andy, das »Dunkle Phantom«. Das ich nicht lache. Trotz alledem, ein gerissener Schurke.«
»Uns bleibt aber keine Wahl«, sagte Veda.
»Und, wie ist der Plan?«, fragte William.
»Zwei unserer Weidenreiter, Cinja und Arvid, haben Andys Männer auf einer Lichtung entdeckt. Ejnar wird uns dort hinführen. Er wartet hier in der Nähe auf uns«, erklärte Veda und suchte dabei den Himmel ab. Der Milan stieß herab und krallte sich in den Handschuh. »Kasper hat Ejnar gefunden. Seltsam, er versteckt sich auf einem flachen, krummen Ast, der im Gras liegt?«
»Er meint sicher die Hexenschussbank!«, sagte William.
»Die was?« Veda schaute etwas verwirrt.
»Na, eine Holzbank. Eine Sitzgelegenheit. Linus hat sie aus einer alten Buche gezimmert. Ist ihm nur ein wenig krumm und schief geraten, daher der komische Name.«
»Er hätte vielleicht vorher deinen Vater fragen sollen«, warf Ulrich ein und schmunzelte.

Schweigend stiegen sie die andere Böschungsseite wieder hinab und William führte sie durch kniehohes Gras hinüber zur Hexenschussbank.
Ejnar lag lang ausgestreckt auf der Bank und kaute ungeduldig an einem Grashalm.
»Da seid ihr ja endlich! Wurde auch langsam Zeit«, murrte er und sprang auf. Ejnar war einen halben Kopf größer als Ulrich, fiel dabei aber deutlich aus der Reihe. Sein Erscheinungsbild glich dem eines überdimensionierten Kraftpakets. An den Armen und Beinen zeichneten sich unter seiner Kleidung beeindruckende Muskelberge ab, die sich bei jeder Bewegung, wie Ballons aufbliesen. 
»Du bist also der berühmte William van Botterbloom!«, begrüßte er ihn freudig.
»Berühmt? Ich glaube kaum.«
»Das kommt noch! Warts ab! Wenn du erst einmal ...«
»Ejnar, bitte! Nicht hier und jetzt«, unterbrach Veda den Weidenreiter. »William weiß bereits, worin seine Aufgabe besteht. Er wurde von Nicholas eingewiesen.«
»Dann ist ja alles in bester Ordnung. Willkommen beim Waldläuferballett! Warte, nicht weglaufen. Bin gleich zurück!«
Mit einem Satz sprang er über die Bank, zog einen Jagdbogen und einen mit Weidenpfeilen befüllten Köcher hervor.
»Mein Geschenk an dich. Ich mag keine halben Waldläufer, na ja, bis auf Ulrich, da mache ich eine kleine Ausnahme«, und flüsternd fuhr er fort, »unter uns beiden Klosterbrüdern: Er hat zu wenig Dampf in den Oberarmen, um die Sehne stramm zu ziehen. Er ist zu faul, an seiner Kraft zu arbeiten.«
»Verstehe! Und du hast ihn extra für mich gefertigt?«
»Logisch, ich bin doch Ejnar! Ejnar der Bogenmacher! Doch jetzt probier ihn mal aus.«
William ergriff seinen neuen Jagdbogen, spannte ihn mühelos durch und führte die Sehne an sein Kinn.
»Sieht alles prima aus. Ich glaube, die Sehne hat die richtige Spannung für dich. Der Bogen steht dir! Wir üben dann später weiter.«
»Danke für alles, Ejnar!«
»Habt ihr´s endlich?«, fragte Ulrich hörbar genervt.
»Ich glaub schon!«, gab Ejnar unbeschwert zur Antwort.
»Dann kann es ja endlich losgehen.«
»Ich werde Kasper zurück in die Bibliothek schicken«, sagte Veda. »Es ist für ihn dort sicherer. Wir wissen ja nicht, was uns im Erlengrund erwartet.« Sie wechselte mit ihrem Gefährten einen kurzen Blick. Dann warf sie Kasper hoch in die Luft. Der Milan breitete die Flügel aus und entschwand. 
Die ganze Zeit liefen sie am Fuße des Bahndamms entlang, bis sie auf ein freies, sumpfiges Gelände stießen. Sie duckten sich ins Gras.
»Hier kommen wir nicht weiter, ohne von denen da drüben entdeckt zu werden«, sagte Ejnar. 
»Meinst du, die haben Wachposten aufgestellt?«, fragte William.
»Wir müssen mit allem rechnen. Vorhin haben wir die andere Seite des Bahndamms benutzt. Das ist die bessere Lösung.«
»Dann sollten wir es von dort aus versuchen«, sagte Ulrich, erklomm in gebückter Haltung die Böschung und verharrte kurz unterhalb des Schienenstrangs. Die anderen setzten sofort nach. Silbriggrau schimmerten die Gleise im Mondlicht. Die hohen Gräser bewegten sich leicht im Wind. Sie waren dem Erlengrund schon deutlich näher gekommen. Fast zum Greifen nah lag er vor ihnen.
»Jetzt müssen wir nur unerkannt über die Schienen kommen«, sagte Ejnar.
»Hat jemand eine Idee?«, fragte Veda und schaute sich um.
Ein entferntes, schrilles Pfeifen hallte durch die Nacht.
Ulrich lächelte verschmitzt. »Da habt ihr die Antwort! Wir warten auf den Zug und laufen dann direkt hinter ihm über die Gleise. Die Waggons werden uns die nötige Deckung verschaffen. Alles verstanden?«
Gespannt sahen sie in Richtung Burg.
Da kam er! Wild dampfend nahm die schwarze Lokomotive auf der abschüssigen Wegstrecke Geschwindigkeit auf. Die Schienen summten leise wie ein Bienenschwarm. Das Geräusch schwoll an. Nach und nach wich das Summen einem Rauschen und der Schwarm erstarb im Zischen und Donnern der näherkommenden Maschine. Machtvoll und unaufhaltsam zog Waggon an Waggon an ihnen vorüber. Der Sog war gewaltig. William warf sich flach auf den Boden und grub seine Finger tief ins Wurzelwerk der Sträucher. Er schloss die Augen und hoffte inständig, nicht unter den fahrenden Zug gerissen zu werden.
Dann brach der Sog ab. Ulrich schlug William auf die Schulter, half ihm hoch und zog ihn mit sich. Alle vier übersprangen geschwind die Schienen. Die roten Rücklichter verschwanden im Dunst der Morgendämmerung.

Minuten später drangen sie lautlos in das wild wuchernde Dickicht des Erlengrunds ein. Unter Williams Schuhen bogen sich die Äste und Gräser so weich wie Watte. Die Sträucher, die er umsichtig zur Seite hielt, damit sie nicht dem nachfolgenden Gefährten beim Zurückschnellen trafen, verharrten in ihrer Stellung. Nachdem sie die Stelle gemeinsam passiert hatten, bogen sie sich, wie von Geisterhand wieder in ihre ursprüngliche Position zurück. Er dachte an Onkel Nicholas und an ihre gemeinsamen Streifzüge. Da knackten die Äste und brachen die Zweige. 
Die Stimmen des Waldes klangen deutlich ausdrucksvoller, drangen feiner abgestimmt an sein Ohr. Zu seinem großen Erstaunen war er instinktiv in der Lage, sie jedem Waldbewohner eindeutig zuzuordnen und genau zu bestimmen, aus welcher Richtung sie kamen. Auch sein Geruchssinn schien sich auf wundersame Weise verändert zu haben. Intensive Gerüche wie Waldmeister oder Bärlauch nahm er abgeschwächter wahr. Dafür traten zartduftende Kräuter und Blumen stärker in den Vordergrund. Er war wie jemand, dem man nach jahrelanger Dunkelheit neues Augenlicht geschenkt hatte, und er nahm diese kostbare Gabe gerne an.
Lautlos schlichen sie durchs Buschwerk. Die Erlenbäume, denen der Wald seinen Namen verdankte, waren nur vereinzelt anzutreffen. Er erkannte Rot- und Schwarzerlen mit ihrer locker aufgebauten, breiten Krone. Feuchtes Moos bedeckte den Waldboden und lagerten sich an den Wurzeln hoch emporstrebender Buchen ab, deren Stämme so dick waren, dass man mindestens vier Mann benötigte, um sie mit ausgestreckten Armen zu umfassen.
Ulrich behielt recht, der Erlengrund unterschied sich auf den ersten Blick nicht wesentlich von anderen Wäldern in der Umgebung. Ein Wald ist ein Wald. Doch dieser Wald erinnerte in seiner Ursprünglichkeit eher an einen Urwald. Er besaß einige reizvolle Lichtungen, steil ansteigende und wieder sanft auslaufende Hügel. 
Ejnar und Ulrich bildeten die Spitze des kleinen Trupps. William und Veda folgten dicht auf. Zwei weitere Weidenreiter, Arvid und Cinja gesellten sich zu ihnen. Er sah, wie das Mädchen mit geheimer Zeichensprache Informationen an Ulrich weitergab, der darauf gebärdenreich antwortete.
Dass es sich dabei nicht um simple Zeichen handelte, war William sofort bewusst. Diese stumme Sprache wirkte lebendiger, bildreicher und fantasievoller als jedes gesprochene Wort, das er kannte. Er verstand zwar keine einzige Silbe von dem, was da eindrucksvoll in die Luft gezeichnet wurde, aber alles wirkte auf ihn völlig befreit von sämtlichen Grenzen des sprachlichen Ausdrucks. Schlagartig wurde ihm klar, dass er die ihm auferlegten Herausforderungen nur erfolgreich meistern würde, wenn er mehr über diese geheime, stumme Sprache der Weidenreiter in Erfahrung bringen könnte. Sicherlich wäre es möglich, sie unter großen Mühen und durch Aufbietung all seiner geistigen Kräfte zu erlernen, aber vielleicht gab es da einen anderen Weg: Wenn sich so einfach Fähigkeiten von Tier auf Mensch übertragen ließen, wie im Fall Kasper, dann sollte es auch zwischen ihm und Veda möglich sein. Er würde sie bei nächster Gelegenheit darauf ansprechen wollen.
Arvid gab ein Zeichen, ihm zu folgen.
Der Wald vor ihnen beschrieb eine Lichtung. Leichter Dunst stieg aus der Wiese empor und vermischte sich mit den ersten Lichtern des beginnenden Tages. Vereinzelt blühte gelber Besenginster zwischen jungem Farnkraut und Schachtelhalm. Alles war mit glänzendem Tau überzogen. 
William wurde auf einen vom Blitzschlag getroffenen Baum aufmerksam, der in der Mitte der Lichtung stand. Einst stellte er einen markanten Punkt in dieser Landschaft dar. Sein Blick reichte weit in das Land hinein. Jetzt war er nur eine alte, aus Totholz bestehende Ruine, deren Form William an einen Elefanten erinnerte.
An einen E-L-E-F-A-N-T-E-N! Buchstabierend zog das Wort durch seinen Kopf. Es gruselte ihn. Es war die Eiche aus seinem Traum. Der alte Elefantenbaum, ein letztes Überbleibsel des Schlaraffenlandes. Weiter kam er aber mit seinen Gedanken nicht. Ulrich zupfte ihm am Ärmel. Auf einem der dicken, weit in die Lichtung hinein ragenden Äste, saß jemand. Eine schmächtige, in ihrer Erscheinung würdevolle Gestalt. Das Morgenlicht ließ das weiße Gewand hell erstrahlen. Das faltige Gesicht wirkte alt und weise, so wie der Elefantenbaum, an dem der Körper ruhte.
Ein feines Wispern drang unwirklich an Williams Ohr. Seltsam fremd und doch vertraut, durchtränkt von elfengleichem Gesang zog es ihn augenblicklich in seinen Bann.
Einem Traum gleich, schwebte William leicht wie eine Feder im Wind, hinüber. Der liebliche Gesang verzauberte ihn, raubte ihm seinen Willen, ließ ihn seine Verletzlichkeit erahnen. Dann stand er vor ihm, sah direkt in sein Gesicht, sah in seine Augen, diese dunklen Augen, ohne jegliche Regung, getaucht in tiefste Leere. Er taumelte, verlor das Gleichgewicht und stürzte ins Bodenlose.
Doch noch bevor sein Gesicht den Boden berührte, schloss sich ein Arm um seine Schultern – Ulrich hatte ihn aufgefangen.

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