Geheimnisvolles Gandenthal

In der Falle

Undeutlich vernahm er Stimmen, fern jeglicher Wirklichkeit. In seinem Brustkorb schienen sich glühende Kohlen zu entfachen. Sein Körper hatte die Schwere eines Pferdes angenommen. Jede so kleinste Bewegung erstarb in dem Gefühl völliger Entkräftung. Aber er lebte. Ja, er lebte. Zusehends tauchten vertraute Gesichter aus den Tiefen seines Unterbewusstseins auf und vermischten sich mit den entsetzlichen Bildern des gerade Erlebten.
Ulrich beugte seinen Freund nach vorne. Von hinten umfasste er seinen Körper. Dann schloss er seine Hand zu einer Faust und platzierte sie zwischen Bauchnabel und Brustbein. Mit der anderen Hand ergriff er diese und führte einen ruckartigen Stoß aus. Sturzbachartig schoss das Wasser aus Williams Lungen. Er hustete, rang geräuschvoll nach Luft. Sein gesamter Körper verkrampfte sich schmerzvoll und ein weiterer Wasserschwall folgte.
»Tief durchatmen, dann hast du es gleich geschafft«, sagte Ulrich. Er klopfte William mit der hohlen Hand den Rücken ab. »Dein Körper braucht einen Moment, um sich wieder an die Umgebung zu gewöhnen.«
In Williams Brustkorb rasselte es vernehmlich. Ein beklemmendes Gefühl von Panik stieg in ihm auf: die Angst des Erstickens! Nur mit Mühe bahnte sich die Luft ihren Weg in seine Lungen zurück. Langsam trat Besserung ein. Allmählich verschwand das Gefühl der Schwere aus Williams Gliedern und die glühenden Kohlen erloschen. Kurz darauf setzte sein Atem spontan wieder ein und die Luft strömte leicht wie eh und je. Mühsam versuchte er, sich zu konzentrieren. Durch einen feuchten Schleier erspähte er zunächst Arvid, der vor ihm auf und ab lief.
»Andy, diese elende Ratte!« Arvid ballte die Fäuste, hob vom Boden einen länglichen Gegenstand auf und schleuderte ihn mit voller Wucht von sich. Ein mehrfach platschendes Geräusch war zu hören. William wischte sich die Nässe aus dem Gesicht und sah genauer hin. Er saß am Strand eines unterirdischen Sees. Feiner, weißer Sand erstreckte sich zu seinen Füßen. Lichter in den verschiedensten Farben beleuchteten die Umgebung. Es waren Weidensteine, die das Licht spendeten.
Arvid bückte sich erneut und ließ diesmal ein rundes Teil über die Wasseroberfläche hüpfen.
»Jetzt beruhig dich wieder!« Ulrich trat auf Arvid zu.
»Und hör endlich auf, mit Knochen zu schmeißen!«
»Knochen! Was für Knochen?« William schaute sich überrascht um. Dann sah er es: Der Sandstrand war übersät mit Knochenteilen. Sein Gehirn schien diese Tatsache bislang nicht erfasst zu haben. Erschrocken wich er zurück und schrie entsetzt auf: Hinter seinem Rücken fiel etwas Hartes, hohl klappernd in sich zusammen. Ein haariger, halb zerfressener Totenschädel rollte urplötzlich über seine linke Schulter und kam genau in seinem Schoß zum Liegen. Fette, übel riechende Maden quollen aus den dunklen Augenhöhlen hervor. Aus Williams Gesicht wich alle Farbe. Angeekelt zuckte und strampelte er mit den Beinen. Der Schädel hüpfte auf seinen Knien auf und ab, entlud nur noch mehr Larven, die zu Hunderten über seine Hose wimmelten.
»Er kann dir nichts anhaben«, lachte Veda amüsiert und griff nach dem Schädel. Respektvoll legte sie ihn zurück in den Sand. William sprang in die Höhe und klopfte sich wild tanzend die kleinen Tierchen von der Kleidung.
Arvid hatte sich derweil vor Ulrich aufgebaut. Nervös schlug er immer wieder mit einem großen, krummen Knochen in seine Handfläche.
»Du hättest im Erlengrund auf deine Schwester hören sollen!« Dabei zeigte er mit dem Finger auf Veda, die versuchte, William zu beruhigen. Ejnar und Cinja wurden hellhörig und verfolgten gespannt die Szene aus sicherer Entfernung. »Nie waren wir so nah dran gewesen! Wir hätten Andy und seine wild gewordene Horde mit einem Streich ins Nirwana schicken können. Und ich frage mich ständig, warum du damit zögerst. Ist das Ganze für dich alles nur Spielerei oder steckt etwas anderes dahinter?«
»Was für ein Affenblödsinn!«
»Affenblödsinn? Ha! Ich sage dir jetzt etwas: Ich wäre vorhin fast auf die Felsen geknallt. Wie findest du das? Ein paar Handbreit weiter und du hättest mich von den Steinen kratzen können. Was treibst du da für ein Spiel mit uns?«
Ulrich blieb gelassen. So schnell ließ er sich von Arvid nicht einschüchtern. Er kannte seine jähzornige Art und hatte gelernt, im Laufe der Jahre damit umzugehen. Nur den Knochen, den Arvid beängstigend wie eine Keule führte, stellte eine deutliche Steigerung seiner Ausbrüche dar. Blitzschnell griff Ulrich nach Arvids schwingendem Unterarm und hielt ihn fest.
»Arvid! Hör mir zu!« Beide sahen sich direkt an. »Es nützt uns nichts, wenn wir die Schurken ausschalten. Dadurch erhalten wir nicht die Antworten, nach denen wir die ganze Zeit schon suchen.«
»Antworten? Es gibt keine Antworten, weil du nicht einmal die Fragen dazu gestellt hast.«
»Das ist absolut lächerlich! Ich stelle mir jeden Tag dieselben Fragen.«
»So?« Arvid verzog spöttisch das Gesicht und stieß Ulrich mit aller Kraft weg, dass dieser ins Stolpern geriet und rücklings in den Sand fiel. »Dann frag dich doch mal, warum wir schon wieder in solch einer Schweinehöhle hocken müssen? Und merk dir das, komm mir ja nicht wieder so nah!«
Arvid zog zischend den Knochen durch die Luft. Nur knapp verfehlte er das Gesicht seines Widersachers. Verachtung lag in seinem Blick. Dann stieß er den Knochen wie ein Schwert in den Sand, direkt neben Ulrichs Hals. Kurz sah er zu Cinja hinüber, die verständnislos den Kopf schüttelte, sprang mit einem Hechtsprung in den See und war gleich darauf unter der Wasseroberfläche nicht mehr auszumachen.
Ulrich rappelte sich hoch.
»DU HAST IHN EINFACH GEHEN LASSEN«, schrie Cinja entrüstet und rannte auf ihn zu. »WARUM HAST DU IHN NICHT AUFGEHALTEN?« Vor Wut schäumend stieß sie Ulrich vor sich her.
»Cinja, hör auf damit!«
»DU HATTEST NIE VOR, ES ZU VERHINDERN, ODER?«
»Ich hatte keine andere Wahl!«, wiegelte Ulrich ab und hob entschuldigend beide Hände hoch.
»KEINE ANDERE WAHL? KEINE ANDERE WAHL? DAS ICH NICHT LACHE!« Cinja trommelte mit den Fäusten gegen Ulrichs Oberkörper.
»Der kommt nicht weit, Cinja! Der beruhigt sich schon wieder. Und LASS DAS!« Mit festem Griff packte Ulrich sie bei den Schultern. »HÖR AUF DAMIT!«
Cinja wehrte sich nicht. Aus ihrem Körper entwich alle Kraft und sie brach in Tränen aus. Die junge Weidenreiterin sackte jammernd in sich zusammen. Veda lief hinzu und nahm sie in die Arme.
»Typisch Arvid, er kann sich nicht benehmen«, sagte Ejnar deutlich angesäuert.
»Nein, das ist es nicht«, erwiderte Ulrich gefasst. »Er hat recht! Ich hätte es nie soweit kommen lassen dürfen. Wir hatten die Gelegenheit und haben sie vertan.«
»Es war aber gar nicht unsere Aufgabe, die »Wilde Horde« auszuschalten«, mischte sich Veda ein. »Wir sollten ihnen lediglich die Weidensteine wieder abjagen. Nicholas hat uns eindringlich davon abgeraten, auch nur irgendetwas anderes zu unternehmen.«
»Nicholas, immer wieder Nicholas. Der ist nicht allwissend!«
»Sicherlich nicht, Ejnar, aber er verfügt über eine große Erfahrung«, betonte Ulrich, »und wir sollten uns tunlichst daran halten, was er uns vorgibt.«
»Dadurch wird unsere Situation nicht besser. Gib doch endlich zu, dass du und dein weitsichtiger Freund euch auf der ganzen Linie geirrt habt!« In Ejnars Stimme lag Hohn und Spott.
»Fängst du jetzt auch damit an?« Ulrichs Gesicht verfinsterte sich. Ohne Vorwarnung zog er seine Zwille hervor und richtete sie abschussbereit auf Ejnar. Als hätte dieser auf eine derartige Reaktion von Ulrich gewartet, vollführte Ejnar geschickt eine Rolle im Sand und sprang mit gespannter Zwille wieder auf die Beine.
William sah zweimal hin. Was hatten die denn vor? Wollten die beiden ein Duell austragen? 
»Jetzt übertreibt ihr aber wirklich!« Mutig und mit weit ausgebreiteten Armen trat er zwischen die Streithähne.
»Geh bitte aus dem Weg, Will! Das hier geht dich nichts an.«
»Genau, das geht dich nichts an, Will!«, äffte Ejnar Ulrich nach und spannte seine Zwille weiter durch, sodass das Leder knirschte.
»Ihr seid ja völlig von Sinnen. Erzählt mir lieber, worum ihr euch streitet.«
»Wie schon gesagt, Will! Es geht dich nichts an. Und jetzt verschwinde bitte aus der verdammten Schusslinie.«
Etwas weiter hinten am Strand, tauchte ein dunkler Schatten aus dem Wasser auf, ihm folgte ein zweiter, dann ein dritter und ein vierter, die sich alle geduckt im Schein der Lichter bewegten.
Instinktiv warf er sich herum. Im Fallen sah er die aufblitzenden, roten Leuchtspuren heransurrender Weidensteine, die ihn nur um Haaresbreite verfehlten. Fast gleichzeitig zerrte ihn jemand mit aller Kraft hinter eine kleine Felsengruppe in Deckung. Überrascht erkannte er Veda und Cinja, wie sie ihre Zwillen mit Weidensteinen luden und auf ein gemeinsames Kommando hin die Geschosse in Richtung Strand abfeuerten. Die Steine zischten und fauchten sicher ihren Zielen entgegen.
»Wenn ich dir sage, Will, geh aus dem Weg, dann mach das gefälligst!« Ulrich zog William zu sich heran. »Und jetzt Kopf runter, sonst wirst du womöglich getroffen!«
»Wie kommen Andys Männer auf einmal hier her?«
»Auf der anderen Seite des Sees muss es einen Zugang geben, der direkt von der Hünenburg hier hinunterführt.«
»Wie sind die an die Zwillen und an die Weidensteine gekommen?«
»Keine Ahnung! Halt! Vermutlich damals von dem Überfall auf unser Dorf. Sie haben sie erbeutet, diese Mistkerle!« 
»Was für ein Überfall?« 
»Jetzt nicht, William, später!«
»Haben wir eine Chance gegen sie?«
»Abwarten! Sie sind in der Überzahl. Schätze um die zehn Männer. Sie haben sich am anderen Ufer und rechts vom Strand verschanzt.«
Über ihnen schlugen krachend Weidensteine in die Felsen ein. Brennender Sternenstaub, vermischt mit Gesteinssplittern, rieselte auf die Weidenreiter nieder.
»Es wird allmählich etwas ungemütlich!«, rief Ejnar und feuerte zurück. »Yippie! Treffer!« Blitzschnell lud er nach.
»Hat jemand eine Idee, wie wir von hier wegkommen? Will! Wenn dir eine einfällt, dann lass hören!«
»Ich? Ich weiß nicht genau.«
»Falsche Antwort!«, konterte Ulrich. »Du bist doch ein Kenner alter Burgen! Denk nach, aber lass dir nicht so viel Zeit damit!«
»Moment! Ich überlege ja schon.« William sah sich um. »Ich glaube, dass sich hier irgendwo der Geheimgang zur alten Burgruine befindet.«
»Und weiter? Verdammt!« Alle duckten sich, weil es erneut Steine regnete.
»Es wird berichtet, dass er bis zur Hünenburg führte und an einem unterirdischen See endete. Das hier könnte der See sein.«
Wieder krachten Steingeschosse in die Felswand. Der Sandboden bebte.
»Wenn die so weiter machen, werden wir bald lebendig begraben sein!«, sagte Ejnar, der sich schützend die Arme über den Kopf hielt.
»Treffer!«, rief Veda. »Die zwei Kerle rechts vom Strand habe ich erwischt. Die schlafen jetzt selig.«
»Das ist die Chance für uns, zum See zu gelangen, um wegzutauchen«, rief Ejnar.
»Nein, das ist zu gefährlich!«, antwortete Ulrich. »Oder willst du so enden wie die Knochenmänner im Sand? Ich frage mich sowieso, was die hier alle machen?«
»Ich vermute«, sagte William, »dass es sich um ehemalige Gefangene der Hünenburg handelt. Die armen Kerle hat man wohl vergessen. Allerdings wurde die Burg viele Male belagert. Es könnten Ritter sein, die hier unten im Kampf starben. Vieles ist möglich. Ich habe vorhin im Sand verrostete Schilde und Schwerter entdeckt.«
»Wartet mal!« Ejnar spähte über die Felsen und zeigte zum See.
Arvid war unvermittelt aus dem Wasser aufgetaucht und zielte auf die Angreifer. Gekonnt streckte er drei nieder.
»Dann geben wir ihm mal Deckung!«, rief Ulrich und feuerte gleich zwei Weidensteine auf einmal ab.
Im Zickzacklauf jagte Arvid über den Sand auf die Felsen zu, wo sich seine Leute verschanzt hielten. Mit einem Sprung war er bei ihnen.
»Braucht ihr etwas Unterstützung?«
»Wo warst Du? Mach das ja nicht wieder mit mir!« Cinja sah ihren Bruder mit einem vernichtenden Blick an.
»Schwimmen! Ich brauchte etwas Abkühlung.«
»Oje! Unterlass das in Zukunft!«
»Ich glaube, sie ziehen sich zurück«, meinte Ejnar.
»Ja, du hast recht!«, sagte Veda. »Die hauen ab!«
»Vielleicht ist das nur ein ganz mieser Trick? Bleiben wir vorläufig lieber noch in Deckung«, schlug Ulrich vor.
Aber wie viel Zeit auch verstrich, es blieb ruhig am Strand. Sie hatten die Angreifer in die Flucht geschlagen.

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