Geheimnisvolles Gandenthal

Die drei Bogenschützen

Durch das Obergeschoss der alten Scheune wehte ein zarter Windhauch, wirbelte über die mit Weizenstaub puderartig bedeckten Holzdielen, um sich kurz darauf im diffusen Spiel des einfallenden Lichtes zu verlieren. 
Zunächst herrschte eine gespenstische Ruhe, dann waren in der Ferne Stimmen zu vernehmen. Befehle wurden gerufen und bestätigt. Jemand rüttelte am Tor und kurz darauf erfüllte das laute Getrampel von schweren Lederstiefeln den weitläufigen Raum.
»Potz - Blitz!« Linus Nix, seines Zeichens Oberfeldhüter der Grafschaft, war etwas außer Atem geraten. Breitbeinig stand er da, die Hände in die Hüften gestemmt und begutachtete seinen Fang. Drei mit Ruß beschmierte Bogenschützen lagen bewusstlos und lang ausgestreckt auf dem Dachboden. 
»Potz Blitz! Nein, so was! Potz Blitz! Gleich drei von der Sorte«, entfuhr es ihm immer wieder.
»Nimm ihnen die Waffen ab, Pit, und verschnüre die Brandstifter zu einem Paket!«, befahl Linus seinem jüngeren Begleiter. »Potz - Blitz! Verdammt ist heute etwa mein Glückstag?«
»Wer immer das gewesen ist, Linus, er hat uns einen dicken Gefallen getan«, freute sich Pit und nahm einige feste Stricke von der Wand. Geschickt verknotete er Arme und Beine. 
»Pit, mach die Knoten nur stramm genug. Sie dürfen uns ja nicht wieder entwischen. Du bist dafür verantwortlich! Hast du das verstanden?«
Der junge, stämmig gebaute Feldhüter Pit von Arnes nickte. Er zog die Schnüre um die Handgelenke sicherheitshalber ein wenig enger, um sie dann mit den Füßen zu verbinden. Kurz darauf hatte er alle drei Bandenmitglieder fest verschnürt und die Waffen an sich genommen.
»Fünf Pfeile sind übrig«, bestätigte er und roch an einem der Geschosse. »Schwarzpulver! Nur gut, dass sie die letzten Pfeile nicht mehr abfeuern konnten. Der Schaden ist schon groß genug«, und nach einer kurzen Pause fügte er fragend hinzu, »und Linus, was machen wir jetzt mit denen?«
»Wir besorgen uns erst einmal ein Fuhrwerk und fahren sie zum Amtsgebäude rüber. Richter Robert kann die Drei gleich aburteilen und dann ins Hundeloch einbuchten. Komm, lass sie uns von hier wegschaffen.«
»Auweia, wie die miefen! Da kann einem ja speiübel werden!« Pit verzog angewidert das Gesicht. Gemeinsam schleiften sie die reglosen Körper zum Treppenabsatz. »Glaubst du, der Rest der Bande treibt sich hier in der Nähe noch irgendwo herum?«
»Möglich! Wir sollten uns umsichtig verhalten. Sie werden versuchen, die Gefangenen zu befreien.«
»Hoppla, Linus, pass auf!«
Einer der Bogenschützen bäumte sich urplötzlich auf und mit lautem Getöse riss er den Oberfeldhüter die Treppe mit hinunter. Linus schlug hart auf dem Boden auf. Der Gefangene kam neben ihm zum Liegen, rührte sich aber nicht weiter.
»Linus, Linus, so geht man aber nicht mit seinen Gefangenen um«, sagte eine freundliche Stimme. Richter Sir Robert Winston beugte sich über ihn und reichte ihm die Hand.
»Hallo, Sir Robert«, stammelte Linus, »Ihr seid ja schon hier!« Schwer atmend ergriff er dessen Hand und zog sich an ihr hoch.
»Alles in Ordnung?«, fragte Pit von oben.
»Ja, alles klar hier unten!«
»Das gibt sicher ein paar blaue Flecke«, jammerte Linus, verbog den Oberkörper prüfend nach rechts, dann nach links, streckte sich in die Länge, massierte sich seinen Rücken und rieb sich den Hinterkopf.
»Na, Linus, noch alles dran?«, witzelte Sir Robert.
»Melde: Oberfeldhüter Linus unbeschadet und voll einsatzfähig, Sir.«
»Dann ist ja alles bestens!«
Linus war etwas kleiner als Sir Robert, was nicht bedeutete, dass er klein war. Sir Robert maß von der Sohle bis zum Scheitel gut sechs Fuß, hatte breite Schultern und wirkte kein bisschen wie ein Richter. Mit seinem wettergegerbten Gesicht, den riesigen Händen und seiner Kleidung, die kaum der eines erfolgreichen und angesehenen Richters entsprach, wirkte er eher wie ein hart arbeitender Holzfäller – und nicht wie jemand, der in der Grafschaft zu Ruhm und Ansehen gelangt war. Praktische Bekleidung war ihm lieber als feiner Zwirn.
Sir Robert war bei den Feldhütern beliebt. Seine immer herzliche, hilfsbereite und aufmunternde Art vertrieb schon so oft manche müde Stimmung unter seinen Leuten. Er besaß die Fähigkeit, die Feldhüter immer wieder zu neuem Arbeitseifer anzutreiben. 
Dennoch war es ihm und seinen Mitarbeitern bis heute nicht gelungen, die »Wilde Horde« dingfest zu machen. 
»Ich habe Patrick angewiesen, mit dem Fuhrwerk herzukommen und eine extragroße Plane mitzubringen, damit der Abtransport der Gefangenen möglichst unauffällig verläuft. Er müsste gleich hier eintreffen«, sagte Sir Robert.
»Woher wussten sie Bescheid?«, fragte Linus, der langsam die Treppe emporstieg und dabei sein schmerzendes Hinterteil rieb.
»Ich bekam eine Nachricht!«
»Eine Nachricht? Von wem?«, fragte Pit, der sich anschickte, einen der Bogenschützen zu schultern.
»Das kann ich nicht genau sagen. Sie hatte keinen Absender.«
Linus blieb oben am Treppenabsatz stehen und drehte sich verdutzt um.
»Ich versteh nicht, Sir Robert.«
»Ich auch nicht! Ich kann nur so viel sagen, die Botschaft kam durch mein geöffnetes Fenster geflogen. Ein geflochtener Weidenpfeil steckt jetzt mitten in meinem Bücherregal.«
»Was? Ein geflochtener Weidenpfeil?«
»Fürwahr, Linus! Sagt dir das irgendwas?«
»Ich habe da so eine Vermutung! Wartet kurz!« Linus hatte offenbar seine Schmerzen vergessen.
»Hier! Es war mir eben schon aufgefallen«, rief er laut und hob etwas vom staubigen Fußboden auf. Dann rannte er an Pit vorbei, der einen Bogenschützen geschultert, die Treppe herunter stiefelte.
»Seht her!« Linus öffnete seine Hand und präsentierte drei rot schimmernde Steine. Sie waren nicht groß, nur so klein wie ein Fingerhut. »Rote Weidensteine! Die hauen den stärksten Mann um. Jetzt wissen wir, wer uns zu Hilfe gekommen ist!«
»Und wer soll das sein?«, fragte Pit. Krachend ließ er seinen Gefangenen fallen. 
»Die Weidenreiter aus dem Weidenthal«, flüsterte er in einem respektvollen Ton.
»Ach, Kokolores!«, Sir Robert winkte ab. »Das ist eine uralte Mär, an der nichts dran ist, und ein Weidenthal gibt es bei uns auch nicht.«
»Was für ein Weidenthal? Donnerwetter! Das sind aber edle Steine!«, staunte Pit. 
»Sir Robert, die Geschichte ist wahr!« Beharrte Linus und zählte auf: »Zuerst der Weidenpfeil mit der Botschaft, der in Ihrem Regal steckt, dann die Bogenschützen hier und jetzt die Weidensteine, das kann kein Zufall sein.«
»Bestimmt will uns jemand verulken«, hielt Sir Robert dagegen. »Es ist doch nur eine Geschichte, die sich die Alten im Dorf erzählen und mit der du mir schon seit Monaten in den Ohren liegst.«
»An jeder Geschichte ist etwas Wahres dran«, konterte der Oberfeldhüter. »Und ich werde es Euch beweisen. Pit, gib mir deine Zwille!«
Pit reichte sie ihm und Linus klemmte einen roten Weidenstein in den Lederriemen.
»Wenn mich nicht alles täuscht, müssten sich die Steine in der Zwischenzeit wieder aufgeladen haben. Achtung!«, rief Linus. »Tretet zurück!« Dann spannte er durch und feuerte den Stein in Richtung Scheunentor ab. Fauchend wie ein wildes Raubtier zog der Stein einen hellen Funkenstrahl hinter sich her und zerplatzte knallend in einem bunten Feuerwerk. Das Holz des Scheunentores war schwarz versengt.
Pit war begeistert. »Wahnsinn! So einen Stein will ich auch haben!«
»Kein Problem, hier hast du gleich zwei davon.« Linus gab Pit die Zwille zurück und legte die restlichen Steine dazu.
»Bewahr sie gut auf, sie sind äußerst kostbar. Soweit mir bekannt ist, gibt es nicht mehr allzu viele davon. Was sagen Sie nun, Sir Robert? Da staunen Sie, was? Ich hatte recht mit meiner Vermutung!«
Der Richter schmunzelte verlegen. »Fürwahr! Gute Arbeit. Aber ich frage mich, warum unsere Freunde aus dem Weidenthal die Steine hier zurückgelassen haben?«
»Vielleicht wurden sie gestört«, warf Pit ein.
»Nein, das glaube ich nicht. Sie hatten bestimmt genügend Zeit, ihre Steine wieder einzusammeln«, erwiderte Sir Robert und wanderte nachdenklich in der Scheune auf und ab.
»Ja, dann ...« Pit wurde von Linus unterbrochen.
»Hört auf zu rätseln«, sagte er und setzte sich auf die Treppenstufen. Seine Stimme klang düster. »Ihre Warnung ist unmissverständlich. Etwas wird geschehen oder es hat längst begonnen – genau wie früher.«
»Was wird passieren?« Sir Robert warf Pit einen kurzen Blick zu. Der zuckte nur mit den Schultern und dann schauten beide zu Linus hinüber. Deutlich war eine innere Anspannung bei dem Oberfeldhüter auszumachen.
»Der Saga nach tauchen die Reiter des Weidenthals immer zu der Zeit auf, wenn großes Unheil den Menschen im Gandenthal droht.«
»Aber wir waren doch erfolgreich. Die Schurken sind festgesetzt«, sagte Pit hoffnungsvoll.
»So, waren wir das? Andy und der Rest der Bande werden versuchen, ihre Spießgesellen zu befreien. Und wenn sie das schaffen, werden sie sich mit geheimen Mächten verbünden und daraus gestärkt hervorgehen.«
»Geheime Mächte? So etwas gibt es doch überhaupt nicht!«, überlegte Pit. Irritiert blickte er zum Scheunentor und auf einmal war er sich seiner Sache nicht mehr so sicher. »Oder doch?«
»Rose, Sir Edgar T. Rose«, sagte Sir Robert. »Ist es nicht so? Du denkst an Rose und an die Zeit der Dunkelheit, aber das ist doch auch nur eine Geschichte, wie von vielen hier im Gandenthal.«
»Wie schon gesagt, an jeder Geschichte ist etwas Wahres dran«, sagte Linus.
In diesem Moment war draußen vor der Scheune ein lautes »Brr«, gefolgt von einem leisen Schnauben zu vernehmen.
»Jetzt bloß nicht in Panik verfallen. Überlegt mal genau, wohin mit den Gefangenen? Ich bin gleich zurück«, sagte Pit und schickte sich an, das Tor zu öffnen, um nach Patrick und dem Fuhrwerk zu sehen.
»Linus, wie lange glaubst du, liegen die Drei hier noch im Tiefschlaf?«, fragte Sir Robert und knetete dabei nachdenklich sein Kinn.
»Sie wurden von roten Weidensteinen getroffen. Die Bewusstlosigkeit hält einen Tag lang an«, erklärte Linus. Dann klatschte er sich auf die Oberschenkel und stand auf, um Pit beim Öffnen des Scheunentors zu helfen.
»So bleibt uns etwas Zeit. Dann mal los! Sperrt sie hoch oben im Burgfried ein und bewacht sie«, sagte Sir Robert. »Wir werden ja sehen, was passiert.«

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