Geheimnisvolles Gandenthal

Die Flucht

»Was für ein Schmuddelwetter! Der Sturm verhagelt einem gehörig die Stimmung«, brummelte Pit und zog seine Mütze tief bis über beide Ohren. »... und wo unser Diener nur bleibt? Wollte er nicht kurz mal weg, um etwas zu essen, zu holen?«
»Der kommt sicher gleich zurück. Patrick war ja noch nie der Schnellste«, sagte Linus und überprüfte zum wiederholten Male im Schein einer Petroleumlampe, die Fesseln der drei schlafenden Bogenschützen. »Und wie die stinken!« Er hielt sich die Nase zu. »Zum Glück gibt es hier im Turm nur Fenster ohne Glas mit viel Frischluft. Ich würde es sonst nicht aushalten.«
»Dafür zieht es wie Hechtsuppe und wir werden nass!«
»Stell dich nicht so an, Pit!« Linus stand vor dem Glockenzimmer und fummelte mit einem kurzen Stück dicker Schnur an der schmiedeeisernen Gittertür herum. Der Knoten wollte ihm aber nicht so richtig gelingen. »Los, halt mal die Lampe.«
Pit duckte sich zu spät. Von draußen schoss ein kräftiger Schwall Hagelkörner in seinen Nacken. »Brr ...! Jaja, ist schon gut, Linus.« Fröstelnd schüttelte er sich die Eiskristalle aus dem Kragen.
»Jetzt nimm sie schon, damit ich die Tür ordentlich verschließen kann.«
»Gib her, ich leuchte dir.«
»Zu dumm, dass wir keinen Schlüssel haben. Wenn wir nicht aufpassen, kauen die uns die Schnüre durch und hauen ab. Denen trau ich alles zu.«
»Das sind doch keine Hunde«, erwiderte Pit.
»Nein, aber sie leben wie Tiere da draußen im Erlengrund. Was würde ich darum geben, wenn wir endlich die ganze Bande dingfest machen könnten.«
»Wie sollen wir das anstellen? Die sind doch wie Geister!«
»Papperlapapp! Sehen so etwa Geister aus? Und seit wann stinken Geister?«
»Das mag sein! Wir haben die Bande schon oft genug verfolgt und immer wieder ihre Spuren im Erlengrund verloren oder hast du das etwa vergessen?«
»Natürlich nicht«, entrüstete sich Linus und kontrollierte den fertigen Knoten. Mit grimmigem Blick nahm er Pit die Lampe aus der Hand und setzte sich auf einen der Strohballen.
»Linus, hör zu«, versuchte Pit, sich zu entschuldigen. »Ich habe es nicht so gemeint.«
»Ich weiß, aber Niederlagen ertrage ich nicht. Es wurmt mich, wenn ich verliere.«
»Wir sind doch gar nicht so schlecht gewesen. Drei von denen haben wir heute erwischt, oder?« Pit knuffte Linus in die Seite und lehnte sich zufrieden zurück.
»Du hast recht! Im Moment sieht es vielversprechend aus«, sagte Linus und schaute nachdenklich durch das Turmfenster in die verregnete Nacht hinaus. »Wo der Butler nur bleibt?« 
Und nach einer kurzen Pause des Schweigens: »Hörst du das?«
»Was?« Pit setzte sich auf und spitzte die Ohren. »Der Regen lässt nach. Meinst du das?«
»Nein, das meine ich nicht. Hörst du das nicht?«
»Nein, was denn?«
»Still! Schnell, lösch das Licht!«, zischte Linus und sein Körper spannte sich.
Hastig drehte Pit an der Petroleumleuchte.
»Mach endlich die Lampe aus.«
Das Licht erlosch. Beide lauschten angespannt in die Finsternis.
»Was ist das?«, flüsterte Linus und erhob sich vorsichtig.
Pit tastete nach der Zwille an seinem Gürtel. Sie war verschwunden. »Verdammt, meine Zwille ist weg und der Beutel mit den Weidensteinen, so ein Mist!«, fluchte er und sprang ruckartig hoch.
»Irgendjemand schleicht hier umher!«
»Es kommt aus dem Glockenzimmer, Linus! Oh, nein! Es sind die ...« Pits Stimme brach ab. Ein greller Lichtblitz. Rotes Glühen flutete den Raum. Fauchende Weidensteine schossen heran und katapultierten Pit und Linus zurück aufs Stroh. Wie zwei nasse Mehlsäcke blieben sie regungslos liegen.

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