Geheimnisvolles Gandenthal

Eine seltsame Begegnung in der Nacht

Winteranfang im Jahre 102, nach dem Zerfall der »Alten Welt« ...

Es ist jetzt fast zwei Jahre her. Ich schlief unruhig in jener Nacht. Das ist nichts Ungewöhnliches für mich, bin ich doch ein wichtiger und viel gefragter Mann mit einer großen Verantwortung, wie ihr wisst. Amtsgeschäfte des Tages pflege ich gewöhnlich bis spätestens Mitternacht zu erledigen, damit sie mich nicht die übrige Nacht hindurch quälen.
So war es auch an jenem Abend. Kurz nach Sonnenuntergang verabschiedete ich mich von meiner Frau Fenja in mein Arbeitszimmer mit den Worten, dass es spät werden könnte. Dann gab ich ihr wie jedes Mal einen dicken Kuss auf die Stirn und strich ihr liebevoll über die Wange. Sie lächelte kurz, wünschte mir ein angenehmes Studieren und schmökerte weiter in ihrem Buch. Fenja hat sich im Laufe der Jahre daran gewöhnt, dass ich bis spät in die Nacht hinein arbeite.
Die Tür zu meinem Zimmer halte ich stets verschlossen. Umso mehr verwunderte es mich beim Betreten, dass die Vorhänge der Fenster zugezogen waren und mir die Sicht nach draußen versperrten. Wahrscheinlich war das Mädchen hier gewesen und hatte sauber gemacht.

Henricus nannte alle seine Hausangestellten Mädchen. Selbst seine weiblich Bediensteten im Amt rief er so. 
Grummelnd zog er die Vorhänge beiseite. Legte zwei, drei Holzscheite auf die leise knisternde Glut im Kamin, entfachte eine Petroleumleuchte, und setzte sich an seinen Schreibtisch, der vor Dokumenten schier überquoll.
Das allabendliche Entzünden der Leuchte im Fenster war ein wichtiges Ritual, das der Amtmann seit vielen Jahren pflegte. Das Licht der Lampe war für jedermann bis weit ins Tal hinein sichtbar. Es war das Zeichen, dass sich Henricus die nächsten Stunden um die Anliegen und Nöte seiner Leute im Dorf kümmerte. Er war ein ordentlicher Amtmann, der jeden Vorgang mit größter Sorgfalt prüfte. Bestechlichkeit war für ihn ein Fremdwort. Nur sein Wort galt und er ließ alle zurechtweisen, die sich nicht tugendhaft verhielten.
Mit sicherem Blick überflog Henricus die Dokumente. In kurzer Zeit bildeten sich zwei Haufen auf seinem Tisch. Dringende Fälle kamen auf den linken Stapel, die anderen, eher unwichtigen, auf den Rechten. Mit einer goldenen Schreibfeder unterstrich er bedeutsame Textpassagen oder strich ganze Absätze durch. Für seine Mädchen im Amt schrieb er am Rand Anweisungen nieder, die sie am nächsten Morgen auszuführen hatten. Henricus verwaltete die Anliegen der Bürger wie ein König, der hoch oben in seinem Schloss thronte und majestätisch über die unterschiedlichsten Anfragen und Belange seiner Untertanen entschied.

Kurz vor Mitternacht drehte er das Licht der Lampe herunter, lehnte sich müde in seinen Sessel zurück, rollte dabei einige Male mit den Schultern und lauschte. Das Dorf unten im Tal war zur Ruhe gekommen, nur vereinzelt schimmerten einsame Lichter zu ihm herauf. Die Schatten der Nacht legten sich über das Land. Das behagliche Knistern der Glut verstummte in der Finsternis und so langsam wurden seine Augenlider schwer. Rasch entledigte er sich seiner Kleider, warf sie achtlos auf die Sessellehne, streifte ein Nachthemd über, löschte das Licht und tastete sich im Schein des Mondes zu seiner Schlafstätte vor. Ein schlichtes Bett stand im hinteren Teil seines Arbeitszimmers. Die Böcks schliefen seit einiger Zeit getrennt. Im Laufe der Jahre hatten beide unterschiedliche Schlafgewohnheiten entwickelt, sodass sie sich zu diesem Schritt entschlossen. Aber im Grunde war es Fenjas Wunsch gewesen, da sie von Ihren Mann spät in der Nacht nicht mehr gestört werden wollte. 

Henricus kuschelte sich tief in die Schlafdecke. Die Wolle war ungewöhnlich kalt und es fröstelte ihn. Er dachte an Fenjas warmen Körper und wie sie ihm jetzt fehlte. 
Unruhig warf er sich von der einen auf die andere Seite. Etwas störte ihn. Unter der Zudecke wollte es einfach nicht warm werden und überhaupt, sie fasste sich seltsam befremdend an, rau und brettig. Womöglich war es eine neue Decke, die Fenja am letzten Markttag für ihn erstanden hatte. Nur davon hatte sie ihm gar nichts erzählt. Er überlegte, ob es besser sei, zunächst still liegen zu bleiben, damit die Wärme sich unter der Decke voll entfalten konnte. Also versuchte er, möglichst flach und ruhig zu atmen, um sich auf den Schlaf zu konzentrieren.
In Gedanken durchlief er den vergangenen Tag. Das Treffen heute Morgen mit Herzog Franziskus von Harrington war zu seiner vollsten Zufriedenheit verlaufen: Die Feldhüter hatten ihr neu errichtetes Penderhaus bezogen und das geplante Amtshaus würde gleich gegenüber dem Gerichtsgebäude entstehen. Ja, es war ein erfolgreicher Tag und seine Mädchen hatten sich redlich Mühe gegeben, den Herzog zufriedenzustellen. 
Peinlich nur, dass Lohmis sich vor einiger Zeit drei Finger der linken Hand abgeschnitten ... 
»Oh, verflucht!« Henricus richtete sich auf. Er hatte etwas Wichtiges vergessen. Wie konnte das nur passieren? Der Herzog hatte ihm doch eine Aufgabe erteilt und vor Freude über die Genehmigung zum Bau des Amtes war er davon völlig abgekommen. Er streifte die Decke von sich und setzte sich auf die Bettkante. Was war das bloß für ein miserabler Stoff. Er würde gleich morgen früh mit Fenja darüber sprechen. Warum war ihr das nicht aufgefallen? Wütend über seine Nachlässigkeit, mehr aber über die Kühle, die ihn umgab, warf er die Decke auf den Boden, tastete nach dem Morgenmantel, schlüpfte in seine Hausschuhe und schlurfte leise zur Tür. Der Mond stand jetzt in vollem Glanze und erleuchtete das Arbeitszimmer in silbrigem Schein. Wie von Geisterhand berührt, rollte sich die Decke zusammen und glitt schlangenartig hinüber zum Schreibtisch.
Ein schimmerndes Augenpaar, so golden wie Feuer, fixierte Henricus, der an der Tür stehen blieb und sich im Raum umsah. Was war das? Er kniff die Augen zusammen. Angestrengt versuchte er, in der Dunkelheit etwas auszumachen. Nichts rührte sich. Kein Laut war zu vernehmen. Die Erscheinung war verschwunden. Er schob seine Wahrnehmung kurzerhand auf seine fröstelnde Müdigkeit. Kopfschüttelnd trat er in den Flur hinaus, stieß gegen eine Kommode und stolperte durch die Haustür ins Freie. 

Der kühle Wind erfasste seinen Morgenmantel und ließ ihn erschauern. Die Nächte waren zu dieser Jahreszeit schon recht kalt und Reisende berichteten über den ersten gefallenen Schnee in den Bergen. Henricus klappte den Mantelkragen hoch und eilte zum Gartentor. Das Kopfsteinpflaster glänzte schwarz wie Schuhcreme im Schein des prallen Mondes. Nach einigen schnellen Schritten stand er vor dem alten Haus. Er gestand sich ein, und das überraschte ihn, dass er es schon lange nicht mehr betrachtet hatte, obwohl er nur einen Steinwurf entfernt wohnte. Jetzt, im Licht des Mondes, wirkte das Gemäuer heruntergekommener, stärker verfallen, als in seiner Erinnerung. Aber sein Plan stand fest: Dieses Haus würde er, Henricus Böck, mit neuem Leben füllen. Mit einer Familie, die ihm am Herzen lag. Und er würde es so aussehen lassen, dass diese Idee von ihm persönlich erarbeitet und beschlossen worden war. Eine kleine Feierstunde würde er für Lohmis auf die Beine stellen. Und für alle galt eine Anwesenheitspflicht, wenn er ihn zum Schließer der Burg ernennen würde. 
Er traute Lohmis durchaus zu, dieses Haus im Laufe der Zeit wieder herzurichten. Innerlich freute er sich schon auf den Tag, wenn der Rasen saftig grün und das Haus frisch gestrichen, umringt von einem Meer aus Blumen, im Sonnenschein erstrahlen würde. 

Zufrieden mit sich selbst warf er einen letzten Blick auf das Haus und wandte sich zum Gehen. In diesem Augenblick bemerkte er mit Unbehagen, dass der Mond sich hinter eine dicke Wolkendecke verzog und den Burgweg in solch eine tiefe Schwärze tauchte, wie es Henricus selbst vorher nie erfahren hatte. 
Sein Schritt stockte. Kein Lichtschein verriet ihm den rettenden Eingang zu seinem Haus. Er riss die Augen auf. Nur einen Steinwurf entfernt, dort, wo er die Gartentür vermutete, stand etwas und beobachtete ihn. Henricus war sich da absolut sicher. Irgendjemand durchbohrte ihn mit seinen Blicken, jemand, dem die Dunkelheit nichts anhaben konnte, jemand, der selbst bei totaler Finsternis sehend war. Nervös nestelte Henricus an seinem hochgeschlagenen Kragen. Er erinnerte sich an die beiden goldflammenden Lichter in seinem Zimmer, die er als den Widerschein der sterbenden Glut im Kamin gedeutet hatte. Sollte er sich darin getäuscht haben? Sein Herz fing vor Panik an zu galoppieren. Die Kälte, die ihn eben noch umfing, wich einem brennenden Schweißausbruch und Tropfen perlten über seine Stirn. Unendlich bedroht, unendlich hilflos, versagten seine Beine. Er fiel auf die Knie. Glühendes Licht erhellte die Szenerie. Henricus schloss die Augen. Sein Oberkörper kippte vorne über. Hart schlug er auf und versank in eine tiefe Bewusstlosigkeit.

*
»Wir sind uns bewusst, was du in jener Nacht alles durchgemacht hast«, sagte Nicholas, setzte sich und legte den Pfeil in die Mitte der Tischplatte. »Trotzdem entschuldigt es nicht deine Untätigkeit! Nun, wie dem auch sei. Es ist passiert!« 
Betretenes Schweigen. Henricus schien wie erstarrt. Nicholas Worte wogen schwer. 
»Hast du sie wenigstens erkannt?«
»Nein!« Der Amtmann schüttelte den Kopf. »Die Männer trugen dunkle Kleidung. Habe sie nie zuvor gesehen.«
»Meinst du, Vater ist schwer verletzt?« Williams Stimme klang besorgt.
»Schon möglich! Wer weiß!« Nachdenklich strich sich Nicholas über den Bart. »Nein, ich hoffe nicht. Dein Vater ist ein zäher Bursche, der wird das schon schaffen.«
»Vielleicht hat ihn ja der Pfeil nur gestreift«, überlegte William.
»Um welche Art Pfeil handelt es sich hier überhaupt?«, fragte Henricus.
»Sieht aus, als hätte man ihn aus Weidensträuchern geflochten. Scheint aber nicht gut gelungen zu sein«, meinte Nicholas und besah sich den Pfeil genauer. »Der Schaft wurde laienhaft hergestellt. Dieses erkennt man an dem unsauberen Flechtmuster, und dass für die Pfeilspitze Knochen als Material gewählt wurde. Ein echter Weidenpfeil besteht vollständig aus Holz und wird in einem Stück gefertigt. Es ist eine besondere Kunst, zu der nur ganz wenige Bogenmacher in der Lage sind. Dazu wurde die Spitze mit dem Schaft schlecht verklebt. Eine miserable Arbeit. Aber trotzdem hat es gereicht, um Lohmis damit zu verletzen.«
»Woher weißt du das alles?« Henricus war beeindruckt.
»Von unserem Oberfeldhüter. Er hat eine ganze Sammlung davon.«
»Verstehe!«
»Und was machen wir jetzt?« William trommelte nervös mit den Fingern auf der Tischplatte. »Wir können doch nicht so dasitzen und gar nichts unternehmen. Wir müssen ihre Verfolgung aufnehmen!«
»Das ist nicht so einfach, William. Das ist Sache der Feldhüter. Die werden schon wissen …« Nicholas hielt inne. Von draußen waren Schritte zu vernehmen und gleich darauf betrat Sir Robert die Küche.
»Richter Robert, welche Ehre!« Nicholas erhob sich.
»Hallo Nicholas! Henricus! Hallo William!« Sir Robert sah sich in der Küche suchend um. »Wo ist Lohmis? Wir brauchen ihn und seine Schlüssel. Die Feldhüter sind hierher unterwegs und haben drei Gefangene für den Burgfried dabei.«
»Mein Vater ist nicht da«, sagte William. »Er wurde entführt.«
»Entführt? Von wem?«
Alle zuckten mit den Schultern.
»Darum werden wir uns später kümmern. Wie seht ihr überhaupt aus? Ihr solltet euch mal waschen!«
»Spitzenidee!«, spottete Nicholas.
Sir Robert schien die Bemerkung zu überhören.
»Also Leute, wo sind jetzt die Schlüssel für den Turm?«, fragte der Richter ungeduldig. »Die Gefangenen sind bald hier.«
»Die Schlüssel trägt Lohmis am Gürtel«, sagte Nicholas schnell und erkannte im gleichen Augenblick die Tragweite seiner Antwort. »Verflixt, die haben Lohmis mitsamt den Schlüsseln entführt!«
»Gibt es Ersatzschlüssel?«
»Ja, bei den Harringtons. Das ist selbst mit der Eisenbahn eine Tagesreise von hier entfernt. Aber der Turm ist aufgeschlossen, wir können hinauf«, beantwortete Henricus die Frage.
»Endlich mal eine gute Nachricht! Nebenbei, wo kommt dieser Pfeil her? Genauso einer steckte heute Morgen in meinem Bücherschrank.«
»Das ist eine lange Geschichte, Sir Robert«, seufzte Nicholas.
Der Richter sah stirnrunzelnd in die kleine Runde. Vorhin beim Betreten der Küche war ihm etwas aufgefallen: Knirschte es nicht verdächtig nach Glassplittern unter seinen Schuhen? Sein geschulter Blick und seine langjährige Erfahrung, mit derartigen Situationen umzugehen, sagten ihm, dass in diesem Raum etwas von besonderer Tragweite vorgefallen sein musste. Er zweifelte nicht im Geringsten daran, dass es einen Zusammenhang gab, zwischen dem Überfall auf den Domänenhof und der Entführung von Lohmis. Das Bild, das sich ihm hier bot, erzählte ihm genug.
Von draußen war das vertraute Geräusch eines Fuhrwerks zu hören.
»Sie sind da! Kommt mit, wir brauchen eure Hilfe!«
»Jetzt komme ich wieder nicht zum Essen«, stöhnte Nicholas und hielt sich den knurrenden Bauch.
»Später, Nicholas, später, dazu ist jetzt keine Zeit. Nachher müsst ihr mir dann aber alles genau erzählen.« Mit diesen Worten drehte sich Sir Robert um und verließ das Haus.

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