
Vergangenes
Liebliche Lautenklänge durchzogen den »Tiefen Bärengrund« und für eine kurze Zeit rückten die bevorstehenden Aufgaben in weite Ferne.
Lilian war eine begnadete Lautenspielerin. Ihr perfekter Anschlag der Saiten, der volle Klang ihres Instrumentes und die eingängigen Melodien begeisterten selbst ihren hart gesottenen Vater. Herdan schmolz dahin. Sein Fuß wippte auf und ab. Peinlich berührt ertappte er sich dabei, wie er einige der Lieder leise mit summte. Für einen flüchtigen Moment kam ihm der Klang der Laute und der Gesang Lilians bekannt vor. Er meinte sie kürzlich schon einmal vernommen zu haben, konnte sich aber nicht mehr genau daran erinnern, wann oder wo. Insgeheim bereute er seine damalige Entscheidung, Frau und Kind verlassen zu haben. Aber nun war Lilian aufgetaucht und er war wild entschlossen, sie nie wieder loszulassen.
Vielleicht würde sich ja eines Tages, wenn sein Auftrag hier erfüllt war, ein neuer Horizont für ihn auftun, voller Liebe, Leidenschaft und etwas Ruhe. Ja, etwas Ruhe, dieses hatte er schon lange nicht mehr verspürt, seitdem sein Vater ihm die Verantwortung für die Grafschaft übertragen hatte.
Er sehnte sich nach jenen unbeschwerten Jahren, als er voller Abenteuerlust durch die Lande reiste. Kein Ort blieb ihm fremd, kein Landstrich unerforscht, keine Wirtschaft ließ er aus, keiner handfesten Schlägerei ging er aus dem Weg, und dann erst die Frauen, zu Dutzenden lagen sie ihm, dem zukünftigen Grafen zu Weidenfels, zu Füßen.
Aber wenn er ehrlich zu sich war, und dieses gestand er sich jetzt ein, dann gab es nur einen einzigen Ort auf der Welt, an dem er sich wirklich glücklich wähnte ...
Am »Stillen See«
Sommer im Jahre 91, nach dem Zerfall der Alten Welt ...
Herdan zügelte seinen Rappen. Der Schwarze bäumte sich auf, stieß ein lautes Wiehern hervor und ließ sich nur widerstrebend zum Stillstand bringen.
Vor seinen Augen erstreckte sich, die malerische Kulisse des »Stillen Gebirges«, der nördlichste Punkt Weidenfels und der magischste Ort der Grafschaft.
Hier war die Luft so rein und klar wie das Wasser des »Stillen Sees«. Glatt wie ein Spiegel erstreckte er sich bis zum Fuß der Berge – so frisch wie der ewige Schnee auf jenen Gletschern, die hoch hinauf in die Wolken ragten. Kein Sterblicher hatte jemals die mächtigen Gebirgszüge im Norden überquert. Die Frauen und Männer, die es versucht hatten, waren nie wieder zurückgekehrt.
»Nur Geduld, mein treuer Freund!« Herdan strich seinem Rappen beruhigend über den muskulösen Hals. »Lass mich den Moment genießen. Nach Tagen der Einsamkeit, des Staubes und der Schmerzen ist dieser Anblick wie Balsam für mein geschundenes Gemüt. Mein Herz sehnt sich nach Ruhe und Geborgenheit, nach einer zärtlichen Hand, nach Braten am Spieß, Brot und Krügen voll schäumenden Bieres. Und was dich betrifft, mein edler Rappe, man wird dir Hafer im Überfluss reichen, einen warmen Stall bereiten und dich auf weiches Stroh betten. Worauf warten wir beide? Juchhu, worauf wartest du, lauf mein Pferdchen, lauf!«
Er lockerte die Zügel, trat dem Rappen in die Flanken und sprengte hinunter zum See. Kurz darauf galoppierte er über eine schmale Holzbrücke, vorbei an drei kleinen Fischerhütten, bis er am Ende eines Wiesenweges, dessen hohe Halme und Gräser fast den Bauch des Tieres berührten, in ein weit geöffnetes Holztor einbog.
In vollem Ritt warf er sich tollkühn aus dem Sattel, lief behände einige Schritte nebenher und ließ das Pferd allein in den großzügig angelegten Innenhof traben, der den Blick zum See freigab. Aus einem Nebengelass trat ein junger Mann heraus und stellte sich Herdans Rappen mutig entgegen. Mit einer geschickten Bewegung fing er das herabhängende Zaumzeug ein und brachte den Hengst ohne Mühe zum Stehen. Herdan schmunzelte.
»Gut gemacht!«, rief er lobend dem Stallburschen zu. »Du kennst dich mit Pferden aus! Wie ist dein Name?«
»Vince, Herr!« Der junge Mann strich dem Rappen über die Blesse und flüsterte ihm beruhigende Worte zu. Es war der einzige weiße Fleck, den das wunderschöne Tier besaß.
»Das ist ein prächtiger Bursche, Herr!«
»Das will ich meinen, Vince! Dann reib den prächtigen Burschen mal gut ab und gib ihm zu fressen. Er hat es sich verdient!«
Dann warf er ihm einen Beutel voller Münzen zu und wandte sich ab. Mit raschen Schritten eilte Herdan zum Eingang des Wirtshauses, das den Ställen angegliedert war.
»Was für ein eindrucksvoller Ort!«, sprach er zu sich, warf einen letzten Blick hinüber zu den schneebedeckten Bergen, übersprang mühelos die vier Stufen zur Veranda, öffnete die Tür und verschwand im Inneren des Wirtshauses »Zur Fröhlichen Einkehr«.
Herdan stand in einem schummrigen, breiten Windfang. Seine Augen mussten sich erst an die Dunkelheit gewöhnen. Er erkannte einige abgestellte Weinfässer, Kisten mit Gemüse und dicken Laiben Brot. Der Duft nach Schweinestall und frischem Heu lag in der Luft. Ein entferntes Grunzen war zu vernehmen.
Erwartungsvoll betrat er den Schankraum. Die Wirtschaft war bunt gemischt. Eine Handvoll Männer hatte sich zu seiner Linken in eine dunkle Ecke verzogen. Sie tuschelten leise und hingen mit ihren Köpfen über einer vergilbten Landkarte. Alle sahen recht verwegen aus und trugen abgewetzte Kleidung. Ihr Schweißgeruch hing im Raum und vermengte sich mit der feinen Bierwürze und dem deftigen Bratengeruch.
Es war immer wieder erstaunlich, welche Anziehungskraft das Gebirge am »Stillen See« auf Menschen jenes Schlages auszuüben vermochte. Die Begriffe Abenteurer, Gottsucher oder Weltverbesserer gingen ihm durch den Kopf. Es waren Wörter, die sein Vater gerne gegen ihn verwendete, wenn sie sich wieder einmal über seinen ausschweifenden und scheinbar nutzlosen Lebensstil stritten. Hier irrte sein alter Herr. Nicht, dass er sie verabscheute, aber mit Gottsuchern oder Weltverbesserer in Verbindung gebracht zu werden, missfiel ihm. Das Wort Abenteurer passt da schon eher.
Aber er war der zukünftige Graf zu Weidenfels und in dieser Mission war er zurzeit in der Grafschaft unterwegs. Ob es seinem Vater passte oder nicht, wenn für ihn dabei etwas heraussprang, warum sollte er sich von einem gedeckten Tisch nicht bedienen? Sein Vater hatte es nicht anders gehandhabt.
Die Tische und Stühle in den Nischen und auf der rundum verlaufenden Empore waren besetzt.
Herdan erblickte einige vornehm gekleidete Gäste, die sich angeregt mit den hier lebenden Siedlern unterhielten. Dazu gesellten sich Handwerker und Tagelöhner, die ihre wohlverdiente Mahlzeit zu sich nahmen.
Eine Ewigkeit schien seit seinem letzten Besuch vergangen zu sein und er bereute seine lange Abwesenheit. Trotzdem vermied er es, Aufsehen zu erregen. Wahrscheinlich würde sich keiner mehr an ihn erinnern. Aber, vielleicht gab es da doch jemanden? Nun, das würde sich schon von alleine ergeben.
Nur wenige nahmen Notiz von ihm. Die Menschen hier waren es gewohnt, dass sich Fremde hin und wieder in diesen gottverlassenen Winkel verirrten, und das kam ihm gerade zupass.
Im hinteren Raum der Gaststube stand in einem halbrunden Oval ein wuchtiger, aus Eichenholz gezimmerter Schanktisch, der zu beiden Seiten von dicken Fässern begrenzt wurde. Dahinter lag ein Flur, der zur Küche führte.
Gegenüber spendete ein knisternder Kamin wohlige Wärme. An den Wänden hingen bronzefarbene drei und vier flammige Kerzenhalter, deren Lichter eine urgemütliche Stimmung verbreiteten.
Herdans Augen suchten nach einem freien Tisch in einer Ecke. Es gefiel ihm nicht, wenn er mitten in einem Raum saß und von allen beobachtet wurde. Auch vermied er es tunlichst, mit dem Rücken zur Tür zu sitzen. Es war ihm wichtig, immer zu wissen, was um ihn herum vorging. Er war es, der das Geschehen beherrschte und nicht die anderen.
In einer Nische, dicht neben drei übereinandergestapelten Fässern, war ein Plätzchen frei.
»Direkt an der Quelle«, lachte er und steuerte den Tisch an. Schwer ließ er sich müde auf den Stuhl nieder.
»Was solls sein, Fremder?«
Ein beleibter Mann mit einer hohen Stirnglatze und einem Bart, so lang, dass er ihm bis zum Gürtel reichte, trat hinter dem Tresen hervor.
»Bringt mir zunächst einen Krug frischen Bieres, Herr Wirt!«, gab Herdan in einem forschen Ton seine Bestellung auf. »Dann bringt mir Brot und Butter, Käse und Fleisch. Ich bin hungrig und habe einen langen Ritt hinter mir. Und gebt Loreena Bescheid, dass Herdan zu Weidenfels wieder zurück sei!«
Der Wirt knurrte etwas Unverständliches in seinen Bart und verschwand in einem Nebenraum. Erschöpfung machte sich bei Herdan breit. Er war ausgelaugt. Seine Muskeln schmerzten, sein Rücken war verspannt und sein Hintern vom Reiten wund gescheuert. Für einen Moment schloss er die Augen. Er war froh, wieder hier zu sein.
»Herdan zu Weidenfels!«, rief eine Stimme. »Du kommst spät in diesem Jahr!«
Herdan riss die Augen auf. In derselben Sekunde fing er sich zwei gewaltige Ohrfeigen ein, rechts, links, dann klatschte ihm eine dunkelbraune, kühle Flüssigkeit mitten ins Gesicht. Jetzt war er wieder wach. Die Nässe schmeckte unbestreitbar nach Bier. Aus dem Hintergrund vernahm er lautes, höhnisches Gelächter. Und ein Name wurde gerufen, der ihm vertraut war.
»Ja, zeig´s ihm, Loreena! Er hat es bestimmt verdient, dieser Lump!«
Wieder fing er sich eine Ohrfeige ein. Einer Weiteren wich er geschickt aus und ergriff Loreenas anfliegende Hand. Rasch zog er die zierliche Frau an sich und küsste sie auf den Mund. Loreena drückte ihn mit einem energischen Stoß von sich. Sie holte erneut aus, aber Herdan hatte dieses Mal besser aufgepasst, zog sie wieder dicht zu sich heran und gab ihr einen langen und innigen Kuss. Loreena ergab sich in ihr Schicksal. Das Lachen und Rufen der anderen Gäste verstummte nach und nach.
»Wo hast du gesteckt, Herdan zu Weidenfels? Du hattest mir versprochen, nach ein paar Tagen wieder zurück zu sein! Das ist jetzt drei Jahre her! Du verdammter Kerl, du hast mich belogen!«
»Was willst du, Loreena? Jetzt bin ich hier und stehe dir voll zur Verfügung!« Herdan breitete die Arme aus und griente über sein nasses Gesicht.
»Pah!« Sie drehte sich auf dem Absatz um und ließ ihn stehen.
»Nun warte doch mal! Lass es mich dir erklären!«
Mit dem Ärmel wischte er sich das Gesicht trocken und lief ihr nach. Loreena durchquerte den Schankraum, rannte durch den Windfang und stieß mit einem Schwung die Tür ins Freie auf. Sie lief das kurze Stück zum »Stillen See« hinunter. Hinter sich hörte sie Herdan herankeuchen.
»Loreena, warte doch mal! Ich kann es erklären!«
Dann drehte sie sich um.
»Bitte, nicht mir! Erklär es lieber deiner Tochter!«
Wie vor eine unsichtbare Wand gelaufen, prallte Herdan zurück.
»Was! Ich habe eine Tochter?«
»Ja, sie heißt, Lilian!«
Ein triumphierendes Lächeln huschte über Loreenas Gesicht ...