
Das geistige Band
Veda war in sich zusammengesunken, ein Häufchen Elend. Leise schluchzend vergrub sie ihr Gesicht in den Händen. Die Umgebung nahm sie nur weit entfernt und durch einen wässrigen Schleier wahr. Ihre Welt lag in Trümmern. Die Gedanken an den Verlust schmerzten und in ihrem Herzen breiteten sich tiefste Leere und Trauer aus.
William war überrascht, dass niemand von den Weidenreitern Anstalten machte, sie zu trösten. Verständnislos sah er sich um.
»Lass sie! Die berappelt sich wieder«, waren Ulrichs einzige Worte.
»Bist du immer so herzlos?«
»Das Leben ist nun einmal so. Ich kenn es nicht anders. Außerdem weiß ich nicht, wie sie auf solch einen Schwachsinn kommt.«
»Das wirst du gleich erfahren!«, erwiderte William und ging zu Veda hinüber.
»Veda, hör mir zu!« William streichelte sanft ihre Schulter. »Niemand ist gestorben! Hörst du, niemand!«
»Woher willst du das wissen, Will? Ich habe es gesehen!«
»Ich weiß! Ich habe diese Bilder ebenfalls gesehen. Aber ich glaube erst daran, wenn ich mich davon selbst überzeugt habe.«
Veda blickte auf. Ihr Gesicht war nass von Tränen.
»Du hast es auch gesehen?«
»Ja! Ich habe alles genauso erlebt wie du. Ich habe meinen Vater, Onkel Nicholas und dich zusammen mit Kasper gesehen und Ulrich. Und wie mir scheint, bist du ziemlich lebendig!« Dass er seiner Mutter begegnet war, darüber schwieg er sich tunlichst aus. Er wollte zunächst ganz sichergehen und selber herausfinden, ob Onkel Nicholas und den anderen wirklich nichts zugestoßen war.
»Oh, William! Bist du dir sicher? Das wäre ja wunderbar!« Williams Worte gaben Veda neue Hoffnung. Er setzte sich zu ihr auf den kalten Steinboden und nahm sie in den Arm. Ihr Kopf ruhte an seiner Schulter. Langsam beruhigte sich Veda wieder. Nur ab und zu wischte sie sich letzte Tränen aus dem Gesicht.
»Ich glaube, dass du recht hast, Will«, flüsterte sie nach einer Weile. Dann nahm sie sein Gesicht überraschend in ihre Hände, zog ihn zu sich heran und küsste ihn auf den Mund. Der Kuss schmeckte salzig, aber Vedas Lippen fühlten sich weich und warm an. »Danke! Danke für alles«, sagte sie und rappelte sich wieder hoch.
»In Ordnung! Hat noch jemand das Gleiche erlebt, wie meine Schwester und William?«, fragte Ulrich, der gelangweilt an der Mauerwand lehnte.
Cinja überlegte kurz, dann schüttelte sie genauso wie Ejnar und Arvid den Kopf.
»Niemand außer euch? Vergessen wir die Sache am besten gleich wieder!«
»Ja, genau! Lasst uns lieber schnellstens herausfinden, wo wir sind«, meinte Cinja.
»Ich weiß, wo wir sind!«, sagte William. »Der Geheimgang scheint intakt.«
»So?« Ulrich wirkte angesäuert. »Die »Rutsche des Lebens« soll der Geheimgang sein? Eine dumme Felsenwippe, die uns irgendwelche Bilder aus der Vergangenheit vorgaukelt, während wir die Orte wechseln? Ha! Lächerlich! Das glaubst du doch nicht! Ich habe von dem Ganzen nichts mitbekommen. Es war eine verteufelt packende Rutschpartie. Hast du eine Ahnung, wo ich die Rutsche zurück zur Hünenburg besteigen kann? Ich würde es sofort ausprobieren. Am besten kommt ihr beide gleich wieder mit. Dann könnt ihr mir erzählen, was in meiner Zukunft passiert.«
»Womöglich ergibt es sich ja, dass ich sie eines schönen Tages entdecke. Sei gewiss, du wirst der Erste sein, dem ich es erzählen werde«, parierte William.
»HÖR SOFORT AUF DAMIT!« Veda boxte ihren Bruder gegen den Oberarm. Der Hieb tat ihm weh. Murrend massierte er sich die Stelle. »Aha, von den Toten wieder auferstanden! Bist du sauer? Tut gut, was?«
»Ja, ich bin sauer! Und es ist mir völlig egal, ob du davon etwas mitbekommen hast oder nicht. Unterlass diese blöden Sticheleien!« Vedas Lebensgeister waren wieder erwacht. »Du solltest uns beiden vertrauen. Wahrscheinlich bist du noch nicht so weit, dass dir so etwas Wunderbares widerfährt. Es war das Beeindruckendste, was ich je erfahren durfte. Und ich glaube, dass William genauso empfindet wie ich!«
»Schon gut! Dann bin ich eben in vielen Dingen noch nicht so weit.« Ulrich wirkte beleidigt.
»Das ist völliger Unsinn. Jeder von uns hat besondere Fähigkeiten mit auf den Weg bekommen. Du, mein Bruder, bist ein Meister der Taktik, ein begnadeter Schütze und Anführer. Jemand, dem ich bedingungslos vertraue und jederzeit überall hin folgen werde. Cinja ist eine erstklassige Fährtenleserin und eine herausragende Kundschafterin. Ejnar, ein Könner in der Kunst der Bogenherstellung. Arvid, ist ein erfahrender Krieger, und meine Begabung liegt auf der spirituellen Ebene, aber darauf brauchst du nicht eifersüchtig sein, denn es nützt uns allen hier.«
Ulrich lief rot an. Ertappt, wie ein kleiner Schuljunge, schaute er verschämt zur Seite.
»Das wäre geklärt!« Veda war wieder ganz die Alte. »Also, Will! Wo sind wir?«
»Unter der Burgruine! Wir stehen in den alten Gewölben. Seht ihr das Licht an den Wänden? Die Kerzen habe ich erst letzten Freitag gemeinsam mit meinem Onkel ausgetauscht. Sie brennen bis zu sieben Tage lang.«
»Und die Kisten dort, sind die von euch?«, fragte Ejnar und deutete in einen Nebengang. William stutzte.
»Nein! Die Kisten sind mir völlig unbekannt«, antwortete er knapp. Er konnte sich nicht daran erinnern, sie jemals hier unten gesehen zu haben.
»Na dann, schauen wir uns das doch mal näher an!«
Es knarrte, als Ejnar den Deckel einer der Kisten öffnete. Er griff hinein und beförderte zwei nagelneue Jagdbogen heraus.
»Da macht dir jemand ein wenig Konkurrenz«, meinte Cinja augenzwinkernd und zog einen Köcher voll mit Pfeilen hervor.
»Aber meine Jagdbögen und Pfeile sind besser verarbeitet.« Er prüfte fachmännisch die Waffen. »Trotzdem, der Bogenmacher hat handwerkliches Geschick bewiesen.«
»Kannst du dir das erklären, Will?«, wollte Veda wissen.
»Nein, ganz und gar nicht!«
»Dann hast du nichts dagegen, wenn wir uns bedienen!«
»Natürlich nicht!«
William sah sich das Gewölbe genauer an. Es sah aus, wie frisch abgestaubt. Glänzend polierte Kerzenhalter hingen an den Wänden. Keine Spinnweben schwebten wie sonst unter der Decke. Seine Nase fing feine Gerüche auf. Vanillearoma wehte durch die Gänge und es duftete nach Rosen und Lederfett. Und dann dämmerte es ihm: Das Gewölbe wurde benutzt. Hier unten lebten Leute!
Ejnar hielt ihm einen Bogen und einen Köcher mit Pfeilen hin. »Da! Für dich! Du kennst dich hier unten aus, ja?«
»Ein wenig. Lasst uns lieber von hier verschwinden. Ich glaube, wir sind nicht alleine.«
»Wie meinst du das?«, wollte Ulrich wissen.
»Weiß nicht, so ein Gefühl halt. Die seltsamen Kisten mit den Waffen und die polierten Kerzenhalter - die waren vor ein paar Tagen noch nicht da.«
»Verstehe! Was schlägst Du vor?«
»Dort hinten erkenne ich die sogenannte »Hohe Halle«.« Seine Hand deutete zum Ende des Ganges, der in ein Kreuzgewölbe mündete. Die von dort abzweigenden Gänge lagen in völliger Dunkelheit. »Ab da beginnt das Unbekannte. Die Gänge sind lang und verschachtelt. Es ist wie ein endlos scheinendes Labyrinth. Weiter hat sich bislang noch niemand vorgewagt.«
»Gib mir deinen Stein«, forderte Ulrich William auf.
»Ach ja, den hatte ich ja ganz vergessen. Er hat sich unter meinem Kragen versteckt, bevor ich die Mauer durchbrach.«
William holte den roten Weidenstein hervor und gab ihn Ulrich.
»Was hast du vor?«
»Wir gehen direkt in die Bibliothek!«, sagte er.
»Von hier aus?«
»Ja! Das, was du als das Unbekannte bezeichnest, ist uns bekannt. Dort hinten, führt ein weiterer geheimer Weg in die Bibliothek. Wir sind immer aus der anderen Richtung gekommen, deshalb habe ich vorhin das Gewölbe, in dem wir uns befinden, nicht gleich erkannt. Aber ich weiß jetzt, wo wir sind. Wir müssen nur einem dieser dunklen Gänge folgen. Der Richtige wird uns geradewegs zu Nicholas führen.« Er drehte sich um und ging auf das Kreuzgewölbe zu. Die anderen folgten ihm.
»Du bist dir nicht sicher, welchen Gang wir nehmen müssen, oder?«
»Im Augenblick nicht, aber habe Geduld, William!«
»Da bin ich ja mal gespannt.«
»Will!« Veda hielt ihn am Arm zurück. »Ich möchte dir schnell etwas sagen«, flüsterte sie.
William sah in ihr liebliches Gesicht. Tausend Schmetterlinge flatterten durch seinen Bauch. Sie trat dicht an ihn heran.
»Seit unserer ersten Begegnung fühle ich eine innigliche Verbundenheit mit dir.« Veda legte ihre linke Hand auf seine linke Brust. Warm pulsierte das Blut durch sein Herz. Sein Pulsschlag verlangsamte sich.
»Ich weiß, dass Kasper auch dir seine geheimen Kräfte übertragen hat. Das ist ein besonderes Geschenk, deshalb bewahre unser gemeinsames Geheimnis. Es wird der Tag kommen, an dem du Kasper genauso führen wirst, wie ich es heute tue, weil andere Aufgaben auf mich warten.«
Sie zog ihre Hand wieder zurück, zunächst zögerlich. Etwas schien sie zu irritieren. Für einen Moment war sie abwesend, auf eine eigentümliche Art verunsichert, dann lächelte sie, als hätte sie auf eine wichtige Frage endlich die lang ersehnte Antwort erhalten.
»Du hättest mir erzählen können, dass du auf der »Rutsche des Lebens« deine Mutter gesehen hast.« Sie strich William eine Strähne aus der Stirn. »Aber ich verstehe, dass du mich schützen wolltest.«