
Traurige Gewissheit
»... und dann kam so ein Brandpfeil angeflogen, stell dir vor, William, direkt in den Bratochsen hinein. Mann, war ich gnatzig! Der Ochse ist explodiert und Essig war es mit meinem knusprigen Braten!«
»Hauptsache, dir ist nichts passiert, Onkel Nicholas.«
»Aber ich habe Kohldampf!«
Der Weg zur Burg stieg jetzt leicht an. Er führte vorbei an saftigen Wiesen mit wiederkäuenden Kühen und weiter hinauf bis zu der kleinen Ansammlung von Häusern rund um die Burgruine. Obwohl sie schon viele Male diesen Weg gegangen waren, schauten beide immer wieder fasziniert hinunter, in das weitläufige Gandenthal.
Nicholas freute sich darüber, dass William es genauso liebte wie er, durch die Wälder und Wiesen des Gandenthals zu streifen, des Nachts im »Hohen Bärengrund« die Waldbewohner zu beobachten oder lange, ausgedehnte Wanderungen zu unternehmen. Ja, er war stolz darauf, dass William trotz aller Widrigkeiten gerne bei ihnen lebte und sich wohlfühlte. Das Verhältnis zum Vater war schwierig, eine ständige Herausforderung. Aber Nicholas besaß ein großes Herz und in einer Ecke darin, fand sich immer Platz für einen mürrischen und widerspenstigen Lohmis van Botterbloom.
Nach dem Unfall mit der Bandsäge hatte Nicholas Lohmis in der Werkstatt unterstützt. Aber er war kein Handwerker. Und die Arbeit mit Holz lag ihm nicht. Deshalb plagten ihn Schuldgefühle, versagt zu haben. Die traditionsreiche Schreinerei van Botterbloom ging unter und mit ihr ein Stück Hoffnung.
Doch dieses gehörte längst der Vergangenheit an. Neue Aufgaben warteten auf Nicholas. Sein inniges Verhältnis zu William und die damit verbundene Freude über den Jungen gaben ihm die nötige Kraft. Er hatte sich vorgenommen, William gegen alle Anfeindungen zu beschützen, auf ihn zu achten und ihn auf das Leben vorzubereiten. Das hatte er seiner Schwester Marie Louise versprochen, damals, nachdem sie fünf Tage nach Williams Geburt an Kindbettfieber verstarb.
Mittlerweile waren sie in die Burgfriedgasse eingebogen. Abrupt blieb William stehen.
»Was ist?«, fragte Onkel Nicholas überrascht. William deutete mit einer knappen Kopfbewegung in Richtung ihres Hauses. Jetzt erkannte Nicholas ebenfalls das kaputte Küchenfenster und die sperrangelweit geöffnete Haustür. Sie warteten einen kurzen Augenblick und lauschten. Aber kein Laut drang an ihre Ohren, nur der Wind strich einsam um die Hausecken. Die Wege waren wie leer gefegt. Hinter einem Fenster des Nachbarhauses bewegte sich fast unmerklich eine Gardine. Eine schemenhafte Gestalt lugte zu ihnen herüber.
»Etwas ist hier gewaltig faul, William«, flüsterte Onkel Nicholas. »Du bleibst dicht bei mir, ich gehe voraus.«
Mit diesen Worten drückte er sich gegen die nächste Hauswand, schlich weiter bis zur offenen Haustür und spähte hinein. William hielt sich direkt hinter ihm.
Vorsichtig traten sie in die Küche und schauten sich prüfend im Raum um. William zuckte zusammen. Es knirschte unter ihren Schuhen. Überall lagen Glasscherben verstreut. Nicholas blieb stehen und zeigte stumm mit der Hand zur Vitrine. Tief im Holz steckte ein Weidenpfeil. Dann entdeckte er auf dem Fußboden einige rote Flecken und kniete sich nieder.
»Blut!«
Lautes Scheppern ließ beide zusammenfahren. Schlaui war vom Schrank gesprungen. Ein paar Teller zerbrachen auf dem Boden. William packte ihn am Nackenfell.
»Ist ja schon gut, Kleiner«, besänftigte William das Tier und drückte Schlaui fest an sich.
»Die Katze ist ja total verstört«, sagte Nicholas und zog mit einem kräftigen Ruck den Weidenpfeil aus der Vitrine. »Sie haben sich verzogen, diese Ratten! Hier ist niemand mehr.«
»Aber, aber wo ist mein Vater?«
»Er wurde entführt!« William fuhr erschrocken herum. Im Türrahmen stand ein zitternder Henricus Böck. Mit aller Kraft löste sich Schlaumeier aus der sicheren Umarmung und schoss durch die Tür ins Freie hinaus.
»Aua! Verflucht, Schlaui! Du hast mich gekratzt«, rief William. Drei rote Schrammen zierten seinen Handrücken.
»Und ihr habt nichts unternommen, um das zu verhindern?« Nicholas war verärgert. »Was seid ihr doch alle für ein armseliger Haufen von Feiglingen!«
»Ich bin kein Feigling, aber seit jener Nacht bin ich halt vorsichtig.«
»Ein wenig mehr Courage hätte ich dir und den anderen Nachbarn durchaus zugetraut. Mensch, wie konntet ihr das nur zulassen, dass sie mit Lohmis hier so rausspazieren? Wir sind hier oben auf der Burg über zwanzig Leute und die zählten wahrscheinlich nicht mal eine Handvoll!«
»Es waren genau drei! Ich weiß, Nicholas, ich weiß, aber es ging alles so schnell.«
»Was ist denn passiert?«, fragte William mit dünner Stimme, setzte sich auf einen Küchenstuhl und feuchtete die Risswunden mit der Zungenspitze an.
»Sie kamen vor gut einer halben Stunde und feuerten einen Pfeil durch die Fensterscheibe«, erzählte Henricus. »Kurz darauf haben sie deinen Vater aus dem Haus gezerrt und sind mit ihm im Wald verschwunden. Sie haben ihn am Kopf verletzt, denn er presste sich ein blutiges Tuch gegen die Stirn.«
»Das meinte ich eigentlich nicht«, sagte William und seine Stimme klang wieder fester.
»So? Und was meintest du?«, fragte Henricus.
»Ich meine, was ist dir in jener Nacht passiert?«
Der Amtmann wich zurück. Sein Gesicht wurde aschfahl. William schaute irritiert zu seinem Onkel.
»Habe ich etwas Falsches gefragt?«
»Nein, dies ist durchaus eine berechtigte Frage.« Nicholas´ Gesicht verriet nicht die kleinste Regung.
»Es könnte mit der heutigen Entführung zusammenhängen«, stammelte Henricus.