
Der Geheimgang
»Hier, hier muss er sein!«
»Will, bist du dir sicher?«, fragte Veda und suchte mit den Augen die Felswand ab.
Der Eingang war kaum auszumachen, so geschickt war er getarnt. Dabei lag er nur einen Steinwurf weit entfernt. William war aufgefallen, dass ein Teil der Geschosse sich recht sonderbar verhielten. Da er nieder gekauert und mit dem Rücken zur Deckung saß, konnte er ihr Verhalten auf die Wände beobachten. Ihm fiel auf, dass einige der Weidensteine an einem Teil der Felswand abprallten, ohne einen nennenswerten Schaden anzurichten. Das Material dort wirkte härter als das übrige Gestein, das sich dunkelgrau, glatt und strukturlos in die Höhe zog, bis es sich in einem bogenförmigen Gewölbe verlor. Im Laufe der Zeit hatten sich stalaktitenartige Formen in der Felsenkuppel ausgebildet. Bedrohlich ragten sie scharfkantig und spitz von der Höhlendecke herab. William erschauderte bei der Vorstellung, was mit ihnen allen passiert wäre, wenn sich ein paar davon über ihren Köpfen gelöst hätten. Rasch vermied er es, den Gedanken zu Ende zu denken.
Die Felswand vor ihnen sah aus wie löchriger Käse, bis auf den Teil des Gesteins, dem die Weidensteine nichts anhaben konnten. Trotzdem war der Geheimgang im Schein der Lichter und wegen der grauen Farbe des Gesteins, fast nicht auszumachen. Es war wie der Blick auf ein Gemälde, zweidimensional, aber das Eintauchen in die dritte Dimension, die Tiefe, blieb einem verwehrt. Eine perfekte visuelle Täuschung!
William tastete die Oberfläche der Felswand ab, bis er die Grundkante des versteckten Zugangs fand. Hastig glitt er mit den Fingerspitzen weiter daran entlang.
Er stemmte sich hoch und richtete sich vorsichtig auf.
»Erstaunlich! Der Eingang läuft pyramidenförmig zu«, stellte er fest und reichte Veda seine Hand. Sie zog sich daran hoch. Zu ihrer Rechten gähnte ein dunkles Loch: der Geheimgang zur Burgruine!
»Wir haben ihn gefunden!« Veda steckte ihren Kopf hinein. »Und er führt uns direkt bis zur Burgruine?«
»So ist es überliefert.«
»Weißt du denn, wo genau sich der Ausgang dort befindet?«
»Nein! Aber ich vermute, er endet in den Gewölben.«
»Dann versuchen wir es. Warte, ich hole die anderen!« Sie sprang nach unten und lief zum See hinunter.
William starrte in die Schwärze des Ganges. Er konnte gerade mal eine Armlänge hineinsehen. Langsam ging er in die Knie und begann, getrieben von einer nicht zu unterdrückenden Neugierde, vorsichtig auf allen vieren hineinzukriechen. Der Geheimgang beschäftigte ihn seit seiner Kindheit und in seinen Träumen war er ihn schon einige Male gegangen.
Der Boden war mit feuchtem, feinem Geröll überzogen. Ansonsten sah er rein gar nichts. Er drehte sich um und stellte fest, dass das Licht in der Felsenhöhle langsam erlosch. Seine Freunde begannen damit, die Steine, die der Höhle in den vergangenen Stunden ihr Licht geschenkt hatten, wieder einzusammeln.
William griff in seinen Beutel mit den roten Weidensteinen und legte einen davon auf seine Handfläche. Zunächst passierte nichts. Doch dann geschah etwas: Sanft glimmend hob der Stein ab und stieg bis auf Augenhöhe empor. Langsam flog er, gefolgt von einem feinen, roten Sternenschweif, einige Schritte voraus und leuchtete den Geheimgang mit einem warmen Licht aus. Außer tintige Schwärze in der Tiefe, war nichts zu erkennen. Die Felswände wirkten glatt und feucht. Der Gang wies genügend Standhöhe auf und schien sicher. William beobachtete, wie der rote Weidenstein eine kleine Kurve flog und zu ihm zurückkehrte.
Bei dem Anblick des fliegenden Steins fiel ihm Kasper wieder ein. Veda hatte ihn in die Bibliothek zurückgeschickt. Ob er dort angekommen war? Ein mulmiges Gefühl beschlich William und es wurde ihm flau in der Magengegend. Hoffentlich war seinem gefiederten Freund nichts passiert!
Von draußen vernahm er die Stimmen von Ulrich und Veda.
Urplötzlich erfasste eine gewaltige Erschütterung seinen Körper und er sackte zwei Körperlängen in den Boden ab. Entsetzt schrie William auf. Ein großer Gesteinsbrocken hatte unter ihm nachgegeben und war senkrecht wie ein Aufzug in die Tiefe gedonnert. Er saß wie in einer Kiste gefangen. Der Weidenstein vollführte eine Drehung und zischte zu ihm hinunter. Aufgeregt hüpfte er neben ihm auf und ab. Wundersam! Aus seinem Inneren war ein leises Wimmern zu vernehmen.
»Steh auf und nimm meine Hand! Schnell!« Ulrich war durch den Gang gerobbt und streckte ihm seinen Arm entgegen. Das Licht des Weidensteins folgte Williams Blick nach oben.
»Ich glaube, aufstehen geht nicht. Der Felsen ist nicht sicher. Er wackelt hin und her. Scheint instabil zu sein. Ich fühle mich wie auf einer Wippe.«
»Wie auf einer Wippe?«, wiederholte Ulrich ungläubig. »Dann warte, ich steige zu dir runter!«
»Bist du etwa völlig von Sinnen? Bleib da, wo du bist!«
Die Fläche unter William fing gefährlich an, sich nach vorne zu neigen. Der Weidenstein wimmerte jetzt deutlich hörbar vor sich hin. Er schien fast vor Angst zu zittern. Verzweifelt versuchte er, das Gleichgewicht zu halten und den schwankenden Felsen auszubalancieren, doch seine Finger glitten immer wieder an den feuchten Wänden ab. Er sah sich wie ein Schiffbrüchiger im Sturm, verloren auf hoher See. Unaufhaltsam rutschte er der Kante entgegen und verschwand im Nichts.
Ulrich war wie versteinert. Für Sekunden umgab ihn völlige Schwärze. Dann schossen zwei weitere Weidensteine an ihm vorbei und erleuchteten die Szenerie.
Veda hatte sie entfacht, da sie, hinter ihrem Bruder liegend, ebenfalls völlig im Dunkeln tappte. Die Felsenplatte, auf der William gesessen hatte, pendelte sich langsam wieder ein.
»Phänomenal!«
»Was ist passiert?«, wollte Veda wissen und zwängte sich neben Ulrich.
»Sieh mal! Es ist eine Wippe! Eine Felsenwippe! William ist darunter verschwunden. Wenn sie aufhört, zu schwingen, können wir sofort hinterher!«
»Alles klar! Ich wusste ja, dass du nicht alle Tassen im Schrank hast. Aber uns bleibt wohl keine andere Wahl, wenn wir hier raus wollen.«