Geheimnisvolles Gandenthal

Die geheime Zusammenkunft

»Habe ich etwas verpasst?« Herdan schaute fragend seine Tochter an.
»Nein!«
»Was meinte er, als er sagte, deine Mutter sei in großer Gefahr?«
Lilian zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht. Ich habe nur kurz den Namen Vince erwähnt, da war er wie verwandelt.«
»Ginge mir genauso!« Herdan setzte sich. »Gibt es den denn immer noch? Der war doch der Stallbursche deiner Mutter, bis er eines Tages auf geheimnisvolle Weise verschwand. Später ist er dann wieder aufgetaucht. Er war einer der Gründe, warum ich fortging.«
»Ich verdanke ihm viel. Er war derjenige, der mich im Stockkampf unterrichtete. Vince war wie ein Vater zu mir. Das, was du nicht sein konntest oder nicht wolltest! Er hat sich die letzten Jahre hingebungsvoll um mich und Mutter gekümmert.«
Wie ein Echo des Versagens hallten Lilians Worte in Herdans Ohren nach. Geknickt wischte er sich unauffällig eine Träne aus dem Auge.
»Das gehört doch alles der Vergangenheit an, Lilian. Wir sollten uns eine neue Chance geben.«
Sie lächelte mild, dann legte sie ihre Finger um die raue Hand ihres Vaters. Die Berührung tat Herdan gut.
»Jetzt sieh dir diese beiden Turteltäubchen an, Vitus!« Graf Eligius schlug Herdan lachend auf die Schulter. »Ein Bild vollkommener Harmonie.«
Eligius und Vitus gesellten sich dazu und setzten sich mit ans Lagerfeuer.
»Herdan, sag, was machen wir mit denen da drüben?«, fragte Eligius, zerbrach ein paar trockene Äste und warf sie ins Feuer.
»Ich habe mit ihnen gesprochen«, sagte Vitus. »Sie hatten Befehl, sich im »Tiefen Bärengrund« einzufinden, um sich mit den Grafen der Nordländer und Herzog Franziskus zu treffen.«
»Wer erteilte den Befehl?«, wollte Herdan wissen.
»Angeblich Franziskus persönlich. Es gibt einen Brief mit dem Siegel des Herzogs, der sie vor einigen Tagen erreichte.«
»Dass der Herzog eine eigene, geheime Leibgarde unterhält – davon wusste ich bis heute nichts«, murmelte Herdan.
»Wie solltest du auch? Sie ist ja geheim«, sagte Eligius.
»Jedenfalls stiegen sie vorhin in den »Tiefen Bärengrund« ab«, fuhr Vitus fort, »um Franziskus und die anderen Grafen zu treffen. Für sie waren wir Eindringlinge, die hier nicht hingehörten. Und so kam es zum Angriff, da sie uns in Gewahrsam nehmen wollten.«
»Sie hätten uns ja auch vorher Fragen können, dann hätten wir uns die ganze Keilerei erspart.« 
»Tja, dann wird es heute wohl nichts mit der großen und geheimen Zusammenkunft.« Herdan erhob sich. »Wenn jetzt jemand von euch der Ansicht ist, dass wir weiter warten sollten, dann kann er meinetwegen hierbleiben, bis er Moos ansetzt. Ich für meinen Teil werde mich unverzüglich in die Bibliothek begeben, denn dieses hätten wir schon vor Stunden machen sollen. Ich hoffe, es ist nicht zu spät.«
Eligius nickte und erhob sich ebenfalls.
»Bin deiner Meinung, Herdan!«
»Hört, hört!«, warf Vitus ein. »Das sind ja ganz neue Töne.«
»Du hast richtig gehört. Ich habe es mir soeben anders überlegt«, sprach Eligius weiter, »es wird Zeit für uns. Lasst uns gehen. Der Weg dorthin ist beschwerlich genug.«
»Wieso beschwerlich?« Vitus blieb wie angenagelt am Boden sitzen. »Ich dachte, wir sind schon fast da.«
»Beinahe! Aber du musst dich noch ein wenig in Geduld üben, mein alter Freund«, sagte Herdan.
»Oh, nein!« Der Mönch schüttelte enttäuscht den Kopf.
»Komm schon, Vitus, auf gehts!« Lilian reichte ihm die Hand und zog den Mönch in die Höhe. »Nach diesem Tag glaube ich, dass jeder Weg, der jetzt oder in Zukunft vor uns liegt, kein leichter sein wird. Sei er auch noch so nah.«
»Gut gesprochen, was? Ha! Das ist meine Tochter, eben eine echte Grafentochter.«
»Ja, ja, schon gut, Herdan«, sagte Eligius und alle begannen ihre Siebensachen, die um das Lagerfeuer herum verstreut lagen, einzusammeln.
Herdan pfiff die Leibgardisten heran. »Männer, kommt zu uns herüber!«

Kurze Zeit später hatten sich alle in einem Kreis um die Feuerstelle versammelt. Herdan sah in die Runde und flüsterte Eligius etwas zu, der an seiner Seite stand: »Also, das ist nicht gerade das, was ich mir unter einer geheimen Zusammenkunft zwischen allen Grafen und dem Herzog vorstelle, aber ich glaube, wir haben keine andere Wahl.«
»Neun Leibgardisten, ein Mönch, du und ich und deine Tochter. Wir sind schon ein toller Haufen!«, zählte Eligius auf. »Das wird recht unterhaltsam.«
»Das glaube ich auch.« Dann richtete Herdan das Wort an die übrige Gruppe.
»Hört mir alle genau zu! Jeder von euch ergreife die Hand seines Nachbarn. Jetzt aber kommt das Entscheidende: Lasst ihn nicht wieder los, egal, was gleich passieren wird. Der Kreis darf unter keinen Umständen unterbrochen werden. Habt ihr das verstanden?«
Ein stilles Bejahen war die Antwort.
Lilian ergriff die Hand von Vitus. Sie konnte seine innere Anspannung buchstäblich ertasten. Es war ein bedeutender Moment für ihn, denn schon bald würde er die Bibliothek betreten dürfen.
Die Leibgardisten dagegen wirkten völlig entspannt. Tivedar stand Lilian genau gegenüber. Es war nur zu offensichtlich, dass er über ihre barsche Abweisung nicht erfreut war.
In Lilians Kopf überschlugen sich die Ereignisse: Tivedars rätselhafte Aussage, dass ihre Mutter in Gefahr sei, ließ sie nicht mehr los, so gerne sie das Gesagte in diesem Augenblick wieder beiseitegeschoben hätte. Er musste etwas Wichtiges über ihren Ziehvater wissen, was ihr bislang verborgen geblieben war.
Als Vince in ihr Leben trat, war sie ein Kind gewesen, unschuldig und unwissend. Aber es gab da etwas, was sie im Laufe ihres Heranwachsens und während ihrer Ausbildungszeit übersehen haben musste. Eine winzige Kleinigkeit womöglich, aber dennoch von so enormer Bedeutung, dass sie einen gestandenen Leibgardisten bei der bloßen Nennung des Namens Vince zusammenzucken ließ. Wenn Lilian es überdachte, hatte sie Vince nie nach der Herkunft des Stockes gefragt. Genauso wenig hatte er ihr bislang über seine Erlebnisse hinter den Bergen des »Stillen Sees« Auskunft gegeben. Selbst über die Bedeutung der Laute, die er ihr einst schenkte, konnte sie nur vage Vermutungen anstellen. Sicher, in der Nacht ihres Aufbruchs hatte sie über einiges Kenntnis erlangt. Aber es reichte nicht aus, alle Zusammenhänge in Einklang zu bringen, zumal sie damals nur einen Teil der Auseinandersetzung mitbekam, als Vince seiner Eifersucht gegenüber ihrer Mutter wieder einmal freien Lauf ließ. Und diese Eigenart von ihm war ihr nicht unbekannt ...

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