
Am Ende eines ereignisreichen Tages ...
... hatten William und Onkel Nicholas ihr Mahl beendet und waren rundum gesättigt. In ihren Bäuchen machte sich ein angenehmes, wohliges Gefühl breit und langsam kroch bleierne Müdigkeit durch ihre Glieder. William hatte Mühe, seine Augen offen zu halten. Sein Onkel war schon eingenickt und schnarchte munter vor sich hin. Ab und zu zuckte sein Körper im Schlaf, dann schmatzte er vergnüglich und pfiff leise durch die Zähne.
William fühlte sich wunderbar. Im Halbschlaf vernahm er das beruhigende Knistern des Kaminholzes, das sich mit dem sanften Plätschern des Quellwassers vermischte. Einmal wurde er zwar durch die Schnarchattacken seines Onkels ein wenig aufgeschreckt, aber sie erinnerten ihn daran, dass er in dieser einzigartigen Felsenhöhle, tief unter der Erde, nicht alleine war. So saß er da, mit geschlossenen Augen, rieb sich mit der Hand über die juckende Nase und versuchte, sich tiefer zu entspannen.
Es dauerte ein Weilchen, bis er bemerkte, dass in dem Raum eine Veränderung vor sich ging. Im Halbschlaf hörte er, dass das Schnarchen seines Onkels dem eines Glucksens gewichen war. Dazu kam das unangenehme Gefühl, beobachtet zu werden. Sie waren nicht mehr alleine in der Bibliothek. Gelassen blieb er sitzen, hielt die Augen geschlossen und wartete ab.
Das Glucksen wurde jetzt energischer, ungeduldiger. William nahm all seinen Mut zusammen und linste ein ganz klein wenig. Ein schriller Schrei gellte durch den Raum. Erschrocken fuhr er hoch, riss die Augen auf, duckte sich aber schnell wieder, als schwere, rotbraune Schwingen seinen Kopf streiften.
»KASPER!«, rief eine gestrenge Stimme, »lass das! Benimm dich!« Der Vogel brach in ein kicherndes Gelächter aus. Wie ein Pfeil schoss er durch das hohe Gewölbe, vollführte eine Drehung um seine eigene Achse und landete geschickt auf dem Zylinder von Patrick McBuffer, der vor der Zisterne stand und einen großen Zinnkrug mit Wasser befüllte.
»Du musst verzeihen, William, aber er ist verrückt nach Albernheiten«, entschuldigte sich Patrick und balancierte mit dem Greifvogel auf dem Hut zum Tisch. Dort stellte er den Krug ab, klappte eine hölzerne Vorrichtung hoch, die an ein »T« erinnerte und sofort sprang Kasper mit einem Hüpfer darauf.
»Dann, Patrick, pass halt besser auf ihn auf!«, rief Nicholas. Er kniete am Kamin und warf ein paar Holzscheite in die glimmende Glut »Na, hast du gut geschlafen? Ich wollte dich nicht wecken.«
William schaute verdutzt zu ihm hinüber. Er war sich sicher, nur gedöst zu haben. Aber der Tisch, auf dem eben noch die vielen leckeren Sachen standen, war abgeräumt. Außer seinem Becher und der Schreibmappe war kein Krümelchen mehr zu sehen.
»Wie lange habe ich geschlafen?«, fragte William etwas verwirrt.
»Moment ...!« Patrick zog eine goldene Taschenuhr hervor, klappte den Deckel zurück und begutachtete verliebt das Ziffernblatt. »Es ist jetzt kurz nach Mitternacht. Dann hast du fast drei Stunden geschlafen«, stellte Patrick fest. »Klapp« und die Uhr verschwand wieder in der Tasche.
»Die Zeit drängt, wie immer.« Onkel Nicholas hatte seine Arbeit am Kamin beendet und wischte sich die Hände an einem feuchten Tuch ab.
»Ist das die besagte Schreibmappe? Interessant, interessant!« Patrick tippte mit spitzen Fingern auf das alte Leder.
»Gefällt sie dir?«, fragte William und trank einen großen Schluck Wasser.
»Ja, durchaus. Kaum zu glauben, welche Kräfte in ihr verborgen schlummern.« Bei dem Gedanken zog er flugs seine Hand zurück.
»Auf gehts!«, rief Nicholas. »Unsere Freunde da draußen, die Weidenreiter, erwarten eine Nachricht von uns. Das Treffen der Grafen ist für heute Mittag geplant, in ungefähr elf Stunden. Es wird deshalb Zeit, mit den Vorbereitungen fortzufahren.« Aus einer Schublade holte er ein silbernes Etui und ein Stück Papier hervor. Dann setzte er sich an den Tisch.
»Heute Mittag? Wer wird denn alles daran teilnehmen?«, hakte William erwartungsvoll nach.
»Alle werden kommen! Die zwölf Grafen des Nordlandes, der Richter und der Herzog, so wie es immer war, schon seit langer Zeit«, erzählte sein Onkel. Er öffnete das Etui und entnahm einen Füller zusammen mit einer kleinen, runden Brille. William schaute überrascht. Dass Onkel Nicholas eine Brille besaß, das war ihm völlig neu. Er hauchte ein paar Mal auf die Gläser, wischte mit dem Hemdzipfel darüber, prüfte dann deren Sauberkeit mit halb zugekniffenen Augen und setzte sie auf.
»Wir treffen uns für gewöhnlich immer am siebten Tag nach Herbstanfang hier in der Bibliothek, genau um zwölf Uhr mittags«, fuhr er fort. »Aber gewisse Umstände zwingen uns, das Treffen diesmal, um ein halbes Jahr vorzuverlegen. Vor einer Woche war Jahreszeitenwechsel, Frühlingsanfang, wie du weißt. Also wird das Treffen heute stattfinden.«
»... und William«, warf Patrick ein und hob warnend den Zeigefinger, »dass du das ja nicht vergisst, unsere Versammlung ist geheim!«
»Ich glaube, dass William sich das bestimmt selbst denken kann«, bemerkte Nicholas und schrieb ein paar Zeilen nieder.
»Pardon, ich ...«
»Schon gut, Patrick, ich weiß ja, wie es von dir gemeint ist«, besänftigte er, ohne von seiner Schreibarbeit aufzublicken. »Du musst wissen, William, Patrick hat das gesamte Treffen organisiert.«
»Genau, ich bin so etwas wie der Verantwortungsträger hier!« Er setzte sich neben William, nahm den Zylinder ab und stellte ihn vor sich auf den Tisch. Er schaute kurz zu Kasper hinüber, der aber schien zu schlafen. Sein kleiner Kopf steckte verborgen im Gefieder. Dann rückte er dicht an Williams Ohr heran und senkte seine Stimme: »Man sagt, die Grafen treffen sich immer einen Tag vor der Zusammenkunft an einem unbekannten Ort tief im »Bärengrund«. Es ist ein dunkler, mystischer Platz; selbst die Tiere des Waldes meiden ihn. Hier erholen sie sich von den Strapazen der langen Reise. Die Grafen sind als Bettler, Mönch oder Handwerker verkleidet, Tage, gar Wochen und ohne Pferd unterwegs. Niemand darf von ihrem Geheimtreffen erfahren. Und dann am siebten Tag nach dem Jahreszeitenwechsel begeben sich die zwölf Grafen in die Mitte des Platzes und steigen alle auf rätselhafte Weise ins Erdreich hinab.«
»Ins Erdreich hinab, wie soll das denn gehen?«, fragte William verwundert.
»Pst, nicht so laut, William. Die Wände hier haben Ohren.«
Onkel Nicholas schaute auf und fasste sich an die Stirn.
»Patrick, erzähl dem Jong nicht so einen Blödsinn. Uns kann hier unten niemand hören. Es gibt einen weiteren Ausgang, der führt hinaus in den »Tiefen Bärengrund«, genau zu dem Platz, den Patrick dir gerade beschrieben hat. Julien hatte ihn damals entdeckt, als er hier festsaß.«
Nicholas war mit dem Schreiben fertig. Er faltete das Papier zusammen, rollte es zu einem kurzen Röhrchen auf und zog ein rotes Bändchen drum herum.
»Hier, Patrick, steck die Nachricht in den Köcher und dann schicken wir Kasper wieder los.«
Der Butler nahm den Zylinder und trommelte mit den Fingern eine lustige Melodie darauf. Dann ließ er ihn auf dem ausgestreckten Zeigefinger rotieren, bis er ihn mit leichtem Schwung auf sein Haupt beförderte.
Onkel Nicholas schüttelte den Kopf und lächelte.
Lässig schlenderte Patrick zu Kasper hinüber.
»He, du da, wach auf ...«, sprach er den Vogel an. Vorsichtig versuchte er, an den kleinen Lederköcher oberhalb der scharfen Klauen zu gelangen. Der Greifvogel rührte sich nicht. Im Gegenteil, bei den Worten Patricks vergrub er sein Köpfchen noch tiefer in das Gefieder.
Der Butler öffnete den Köcher und steckte das Papierröllchen hinein. Umsichtig verschloss er ihn wieder und überprüfte den Sitz der Lederriemen. Zufrieden lächelte Patrick vor sich hin. Sein Grinsen erstarb, als der Zylinder mit einem kräftigen Ruck von seinem Kopf gerissen wurde und quer durch den Raum segelte. Kasper gluckste und kreischte vor Vergnügen. Mit einem Satz war er auf dem Boden und verschwand unter dem Tisch.
»Du alter Halunke!«, schrie Patrick wütend. »Wo ist mein Zylinder, wo hast du ihn hingeschleudert?« Er ließ sich auf die Knie fallen und robbte auf allen vieren fluchend hinter dem Vogel her.
»Na, warte, wenn ich dich erwische, dann kannst du aber was erleben! Aua, verdammt!« Jetzt hatte sich Patrick an einem Tischbein gestoßen.
Von oben vernahm er ein schadenfrohes Gelächter. Beide hielten sich den Bauch vor Lachen. Kasper tippelte geschwind zwischen Tisch- und Stuhlbeinen hin und her, hüpfte mal hier und mal dort hin und hielt so Patrick in Atem.
»Du willst mich wohl zum Narren halten, du frecher Piepmatz? Halt, jetzt warte doch mal!«
Weg war er. Der Milan verschwand aus Patricks Blickfeld. Der Butler krabbelte stöhnend unter dem Tisch hervor und ließ sich erschöpft auf einen Stuhl fallen. Vor ihm, nur eine Armlänge entfernt, saß Kasper und hielt den Zylinder in seinem Schnabel.
»ZACK!« Volltreffer! Der Zylinder flog Patrick direkt gegen die Nase.
Lautes Lachen schallte durch den Raum.
»Ho, ho, ho …! Jetzt ist aber Schluss, Kasper! Komm her, mein Kleiner!« Nicholas´ Worte zeigten sofort Wirkung und Kasper stolzierte über den Tisch zu ihm hinüber, nicht ohne eine gewisse Schadenfreude in den Augen.
»Meinst du, er kommt mal zu mir auf den Arm?«
»Probieren wir es aus! Reich mir bitte den Handschuh rüber, Patrick!«, sagte Nicholas.
Der Handschuh kam über den Tisch gerutscht und William streifte ihn über. Das Ganze fühlte sich jetzt schon recht schwer an, und als Kasper auf ihn zusprang und sich geschickt in das Leder krallte, hatte er zunächst Mühe, seinen Arm in der Waagerechten zu halten.
»Bringe deinen Oberarm näher, an den Körper heran, dann ist es leichter, den Unterarm ruhig und gerade zu halten. Er hat dann genug Platz und fühlt sich sicher wie auf einem Ast«, erklärte Nicholas und stützte Williams Arm etwas ab. »Du weißt, er ist ein wenig übermütig, aber ansonsten ein lieber Kerl.« Er kraulte sanft die gefiederte Brust. Kasper gluckste vor Wonne. »Bist du jetzt bereit, ihn alleine zu halten.«
„Ich glaube, das kriege ich hin.«
»Ich nehme jetzt meine Hand weg, in Ordnung?«
Er nickte. Langsam zog Nicholas seine Hand zurück. William gab sich Mühe, seinen Arm zu stabilisieren.
Der Greifvogel drehte seinen Kopf und beide sahen sich direkt an. Kasper schloss seine Augen, verengte sie zu feinen Schlitzen. Dann durchströmte die Kraft und die Wildheit des Greifvogels Williams Körper. Ihm wurde gewahr, wie nach und nach die Schwere des großen Vogels nachließ. Kasper wurde auf seinem Arm leichter und leichter, so leicht wie eine Feder im Wind. William zweifelte keinen Moment daran, dass dieser stattliche Vogel erstaunliche Fähigkeiten besaß, die er ein Stück weit auf ihn übertragen hatte.
»Bekommst du es hin?«, fragte Onkel Nicholas.
»Kein Problem! Überhaupt kein Problem!«, murmelte William, noch ganz gefangen von seiner körperlichen Wandlung.
Sein Onkel klopfte ihm bewundernd auf die Schulter. »Gut gemacht!«
»Überaus erstaunlich«, dachte William. »Niemand hier ahnte etwas. Veda behielt ihre Kenntnisse über die ungewöhnlichen Fähigkeiten ihres Vogels geheim. Erwähnte sein Onkel nicht vorhin, abgesehen davon, dass sie ein nettes Mädchen sei und eine geschickte Falknerin, dass die Verständigung zwischen den beiden völlig ohne Worte ablaufen würde. Kam hier niemand auf die Idee, das Veda in der Lage war, ihre Gedanken direkt auf Kasper zu übertragen und umgekehrt genauso? Jeder in dieser rätselhaften Geschichte verbarg Geheimnisse, die er für sich behielt. Aus Vorsicht, vielleicht, vielleicht aus Misstrauen dem anderen Gegenüber? William fragte sich, warum Linus nicht in die Bibliothek mit eingeweiht war. Sein Onkel hatte ihn mit keinem Wort erwähnt. Dabei war es der Oberfeldhüter, der umfangreiche Kenntnisse über die Vorgänge im Gandenthal besaß. Es wäre ein leichtes für Linus, seine Aufzeichnungen mit den Büchern und Dokumenten in der Bibliothek zu vergleichen und auszuwerten. Warum weihten sie ihn nicht ein. Was lief hier verkehrt? Was durfte Linus nicht wissen?« Die Stimme seines Onkels riss ihn aus seinen Überlegungen.
»Gut, dann lasst uns alle wieder hinaufgehen, damit Kasper die Nachricht überbringen kann. Ich habe wegen der Gefangenen im Burgfried Unterstützung angefordert. Habe so das Gefühl, als wenn wir ein wenig Hilfe gebrauchen könnten. Ich hoffe, es ist nicht zu spät!«
Gemeinsam verließen sie die Bibliothek und betraten den Vorraum. William entdeckte einige Steinstufen, die sich steil nach unten ins Dunkle verloren. Sie waren ihm vorhin gar nicht aufgefallen.
»Das ist die Treppe, die zum »Tiefen Bärengrund« führt«, erriet Nicholas Williams Gedanken. »Der Weg dort hinunter ist gefährlich und es lauern überall Fallen. Die Stufen sind nass und glitschig. Man kann leicht ausrutschen und hinabstürzen. Geh niemals dort alleine hinunter, egal, was auch passieren mag!«
William nickte stumm und es gruselte ihn, als er in den scheinbar nicht enden wollenden, dunklen Abgrund starrte. Nein! Danke! Darauf wollte er gerne verzichten. Kasper schien das nicht sonderlich zu interessieren. Er saß gelassen auf Williams Arm und döste.
Patrick schloss hinter ihnen die Flügeltür zur Bibliothek. Es wurde stockdunkle Nacht. Nur das Plätschern des Wassers, das sich seinen Weg durch die Gesteine bahnte, war zu vernehmen. Ein kühler Luftstrom durchzog das Gewölbe. Mit einem Zischen entfachten sich drei Fackeln an der Wand. Patrick schnappte sich die erste aus der Halterung, und stieg die Treppe empor.
»Du gehst am besten mit Kasper in der Mitte, Will«, sagte Nicholas und griff sich die zweite Fackel.
»Oje, ich habe die Schreibmappe auf dem Tisch liegen gelassen«, rief William und blieb stehen.
»Ich weiß. Aber mach dir keine Sorgen. Sie ist gut in meinem Regal versteckt. Niemand wird sie zwischen den vielen Büchern und Dokumenten finden.«
Er war erleichtert. Gemeinsam begannen sie den Aufstieg. Ab und zu schaute sich William um. Das Licht der letzten Fackel im Vorraum war in der Zwischenzeit erloschen und es herrschte in der Tiefe und in der Höhe absolute Finsternis. Das Plätschern verstummte langsam. Nur das schwere Atmen der beiden Männer, vermischt mit dem Knarren ihrer Ledersohlen, war zu vernehmen. Kasper saß jetzt aufmerksam auf seinem Arm. Manchmal zog er seinen Kopf in das Gefieder zurück, wenn sein eigener, schwarzer Schatten an der Wand auftauchte. Das war ihm etwas unheimlich.
»Wir sind oben«, kam es keuchend von vorne. Die Tür öffnete sich, die Fackeln erloschen und kurz darauf standen alle wieder in der Küche.
»Ich glaube, ich werde alt«, schnaufte Nicholas und ließ sich krachend auf die Sitzbank nieder.
»Du bist alt«, amüsierte sich Patrick.
»Ja, gut möglich ...!«
»William, du musst dich jetzt von Kasper verabschieden«, sagte Patrick und öffnete das zum Tal hinausgehende Küchenfenster.
»Bis bald, mein Freund, und pass auf dich auf«, sagte William.
Mit einem schrillen Schrei, so wie er es liebte und wie es nun mal seine Art war, stürzte sich der Milan in die Tiefe.