
Der unheimliche Besucher
Frühlingsanfang im Jahre 104, nach dem Zerfall der Alten Welt ...
Das Kloster Amelungsburg lag an der südwestlichen Grenze des Nordlandes eingebettet zwischen den drei Grafschaften Gandenthal, Leine Auenland und Grottenthal. Die Lage des Klosters war günstig gewählt. Die Winter waren zwar hart und bitterkalt, aber dafür war der Frühling außergewöhnlich mild, mit hellen Sonnentagen, die sich mit angenehmen Regenperioden ablösten. Geradezu ideal für die vielen Weinberge, Olivenhaine und weitläufigen Obstplantagen. Aber am wohlsten empfand es Vitus, wenn der winterliche Frost langsam aus den klösterlichen Gemäuern entwich und Licht und Wärme in die Räume der Mönche Einzug hielten. Dann war es Zeit, gemeinsam mit seinen Ordensbrüdern in den Klostergarten hinaus zu treten, um sich an dem jährlich wiederkehrenden Naturschauspiel der neu erblühenden Pflanzenwelt zu erfreuen.
Der Garten des Klosters war mit zwölf Hochbeeten terrassenförmig angelegt und durch stabiles Mauerwerk und Flechtzäune gegen Wildfraß geschützt. Hier wuchs alles, was das Herz einer guten Klosterküche begehrte: Gemüse, Obst und Würzkräuter, verschiedene Kohl- und Bohnenarten, Erbsen, Spinat, Sellerie, Fenchel, Zwiebeln und Gurken. Auch gab es Dill, Schnittlauch und Petersilie. Stolz war Vitus auf seine Arzneikräuter wie Zitronenmelisse, Alant und Schwertlilie. Letztgenannter Pflanze schenkte er stets besondere Beachtung, da er sich in ihre samtigen, in Regenbogenfarben schillernden Blüten immer wieder aufs Neue verliebte. Das aus dem Wurzelstock gewonnene ätherische Öl, das veilchenduftiges Aroma verströmte und schleimlösende Wirkung bei den unterschiedlichsten Beschwerden hervorrief, fand schon bei vielen Erkrankten und Dahinsiechenden heilende Anwendung und schenkte Erleichterung.
Es war weit nach Mittag, als Vitus den Klostergarten hinter der Kantorei betrat und er es sich auf einer der hölzernen Bänke gemütlich machte. Er wollte die wenige Zeit nutzen, die ihm bis zum Schlagen der Horenglocke blieb, welche den nächsten Gottesdienst ankündigte, um in einem aus der Klosterbibliothek entliehenen Buch zu studieren.
Erwartungsgemäß war der Garten verwaist. Die meisten seiner Ordensbrüder hatten sich in die Schlafräume, dem sogenannten Dormitorium, zurückgezogen. Vitus war alleine mit sich und seinem Buch, inmitten seiner Kräuter und Pflanzen. Ein angenehmer Zustand, den er gerne für sich persönlich in Anspruch nahm.
Er war so tief in den Lesestoff versunken, dass er dem Eintreffen eines weiteren Mönchs zunächst keine Aufmerksamkeit schenkte. Unterschwellig jedoch schlich sich eine gewisse Unruhe bei ihm ein, die er nicht gleich zu deuten wusste.
Als er denselben Satz zum dritten Mal las, verspürte er jäh, dass ihn an dem anderen irgendetwas irritierte, ja fast schon befremdete.
Er blätterte eine neue Buchseite um.
Im Augenwinkel gewahrte er die schlanke Mönchsgestalt, die im Schatten der Bäume ungewöhnlich regungslos dastand und ihn beobachtete. Dieser Jemand konnte unmöglich einer der Ordensbrüder sein, auch wenn er wie ein Mönch gekleidet war.
Die Stille war erdrückend.
Vitus hoffte auf den erlösenden Klang der Horenglocke.
Er blätterte weiter, ohne zu lesen. Das Papier raschelte.
Die Person bewegte sich jetzt unmerklich. War das gerade ein Schritt gewesen? Ein Schritt des anderen auf ihn zu?
Eine Windböe erfasste die Äste der Bäume.
Vitus versuchte, seine Konzentration wieder auf das Buch zu lenken. Zweifelsohne, diese Situation flößte ihm zunehmend Angst ein.
Wo das Läuten der Glocke nur blieb? Wie langsam die Zeit doch voranschritt, wenn man auf etwas wartete.
Ein Flüstern drang an sein Ohr. Ein gesprochenes Wort, leise wie das Wispern des Windes. Dann wieder. Jemand rief deutlich seinen Namen: »Vitus! Vitus!«
Vorsichtig lugte er über den oberen Rand des Buches. Der fremde Mönch war verschwunden. Der Platz, an dem er eben gestanden hatte, war verlassen. War es nur Einbildung gewesen? Eine Sinnestäuschung gar? Dann folgte ein kurzes Peitschen wie das von zurückschnellenden Ästen. Wie gelähmt vernahm er knirschende Schritte auf dem Kies, die sich ihm zielstrebig näherten. Ein unangenehmer Geruch von Schweiß kroch in seine Nase. Der Fremde setzte sich zu ihm auf die Bank.
»Ich bin´s! Franziskus!«
Vitus zuckte zusammen. Er brachte kein Wort heraus.
»Du brauchst dich nicht zu ängstigen, mein Freund! Ich will nur nicht, dass mich jemand erkennt!«
»Du? Hier?« Etwas Besseres fiel Vitus nicht ein. »Was machst du denn hier? Du hast mich fast zu Tode erschreckt!«
»Bitte entschuldige! Es lag nicht in meiner Absicht. Einige der Grafen und ich sind auf dem Weg zu einem geheimen Treffen. Ich habe aber die Befürchtung, es werden dort nicht alle ankommen!«
»So?« Vitus schaute Franziskus überrascht an. Der angebliche Mönch hatte die Kapuze seiner Kutte so weit übergestreift, dass sein Gesicht nicht zu erkennen war.
»Ich habe leider keine Zeit für lange Erklärungen. Ich bin gekommen, um dich um Hilfe zu erbitten!«
»Dann sage mir, wie?«
Franziskus zog einen braunen Umschlag hervor und reichte ihn Vitus.
»Hier, da steht alles drin. Lies und vernichte ihn sorgsam. Er darf unter keinen Umständen in falsche Hände geraten! Ich bin mir bewusst, dass ich dir hiermit eine große Last aufbürde, aber es ist mir wichtig, dich an unserer Seite zu wissen.«
Die Horenglocke erklang.
»Es wird Zeit für mich!« Franziskus sah sich kurz um und erhob sich.
»Werde ich dich jemals wiedersehen?«
Der Herzog streckte Vitus seine Hand entgegen und schaute auf. Der Mönch erschrak. Franziskus’ sonst so wache, von Heiterkeit sprühende Augen wirkten müde und seine Gesichtszüge verrieten tiefe Sorgen und Nöte. Vitus ergriff die Hand und am liebsten hätte er sie nie wieder losgelassen.
Die Horenglocke läutete erneut. Jetzt kräftiger und gleichmäßiger. Der Glöckner hatte seinen Rhythmus gefunden.
Franziskus kniete sich vor Vitus nieder und bat um seinen Segen. Der Mönch nickte. Ein Lächeln lag auf dem Gesicht des Herzogs, während er die Segnung empfing.
»Ich danke Dir, mein Freund!« Franziskus riss sich los. Die Schatten der Bäume verschluckten ihn.
Nachdenklich erhob sich Vitus. Die Glocke schlug leiser. Bald würde sie verstummen. Er steckte den Briefumschlag als Lesezeichen in das Buch und klappte es zu. Zügigen Schrittes eilte er hinüber zur Kirche, wo sich bereits ein Großteil seiner Ordensbrüder zum nachmittäglichen Gottesdienst versammelt hatten.