Geheimnisvolles Gandenthal

Im Schutz der »Weißen Klippen«

Der Sturm umtoste die »Weißen Klippen«, eines von vier Grenzmerkmalen des Weidenthals und peitschte den Regen durch die alten Weidenbäume. Im Schutze eines überhängenden Felsvorsprungs hockte zusammengekauert eine schmale Gestalt auf einem mit Sträuchern notdürftig hergerichteten Nachtlager. Unter einem etwas zu großen Hut stieg der Rauch einer Weidenpfeife auf und lange, blonde Haare hingen über rund gebeugte Schultern.
Ein grünlich schimmernder Mantel umhüllte wärmend den jungen Körper und ließ ihn vor dem Hintergrund der Wälder fast unsichtbar erscheinen. Er schien förmlich mit ihnen zu verschmelzen.
Eine Hand berührte zart seine Schulter und Veda setzte sich zu ihrem Bruder auf das Nachtlager. Eine Zeit lang saßen sie nur so da und hingen ihren Gedanken nach, bis Ulrich das Schweigen brach.
»Wir haben versagt, Veda! Da wir nicht vor Ort waren, als es geschah. Wenn wir dort gewesen wären, dann bräuchten wir hier nicht in dieser Einöde der »Weißen Klippen« auszuharren.«
»Es trifft uns aber keine Schuld, mein Bruder! Du musst versuchen, dich davon zu befreien. Lass diesen Gedanken einfach fallen«, erwiderte Veda.
Ulrich zog nachdenklich an der Weidenpfeife und blies den Rauch zur Seite.
»He, nicht doch! Du brauchst den Rauch nicht extra von mir wegzublasen. Ich rieche das Weidenkraut gerne.« Veda fächerte mit der Hand über dem Pfeifenkopf, um ein wenig von dem herrlichen Kräuterduft aufzuschnappen.
»Ich will nicht, dass meine Schwester davon raucht«, sagte Ulrich und hielt die Pfeife am ausgestreckten Arm von Veda weg. »Das Kraut wird dir schaden und deine Sinne vernebeln und das ist das Letzte, was wir jetzt gebrauchen können.«
»So, so, dass ich nicht lache! Und was ist mit dir? Vernebelt es nicht deine Sinne?«
»Unser Vater sagte immer, das Weidenkraut könne einem Mann nicht schaden, wenn er nur mutig genug sei, sich seinen inneren Ängsten zu stellen. Obwohl wir einer dunklen Zeit entgegengehen, fühle ich mich kräftig genug.«
»Ich vermisse sie, Ulrich!« Veda lehnte ihren Kopf an seine Schulter und schaute traurig in die langsam aufziehende, verregnete Dämmerung. »Ich denke ständig darüber nach, was passiert sein könnte. Wo sie sich jetzt befinden. Welche Qualen sie erleiden müssen.«
Ulrich zog erneut an seiner Pfeife und hielt sie in Augenhöhe vor sich hin, um sie genauer zu betrachten.
»Diese Weidenpfeife, Kasper und unsere Erinnerungen sind alles, was uns geblieben ist. Alles andere wurde uns genommen. Unser Dorf, unser zu Hause, selbst die Hütte von Onkel Nicholas wurde zerstört. Übrig blieb, verbrannte Erde.« 
Eine Träne löste sich und rann über Vedas Wange. Wie immer in solchen Augenblicken der tiefsten Trauer glaubte sie, die Nähe ihres Vaters zu verspüren, wie er sie beschützend in seine starken Arme schließt, als könnte ihm keine Macht dieser Welt seine Tochter entreißen. Gerne gab sich Veda diesem Gefühl hin, diesem anheimelnden Gefühl von Geborgenheit, mit der ganzen Wärme einer längst verlorenen Vergangenheit.
»Es ist kein Platz für Trauer. Auf uns wartet eine große Aufgabe«, sagte Ulrich leise und steckte die Pfeife unter seinen Mantel. »Es wird langsam Zeit, dass du Kasper holst.«
»Ja, es wird Zeit.« Veda erhob sich. Geschickt schlüpfte sie in eine durch dichtes Gestrüpp verdeckte Felsspalte. Der dahinterliegende Gang beschrieb zunächst eine kleine Biegung, bis er sich kurz darauf weitete und den Blick in eine kuppelförmige, unterirdische Grotte mit einem kristallklaren See freigab. In der von Fackeln erhellten Felsenhöhle ragten die weitverzweigten Wurzeln der »Weisen Weidenbäume« tief in den Raum hinein und durchzogen die Decken und Wände wie ein spinnenartiges Netz. Weiße und rote Weidensteine funkelten an den Wurzelspitzen oder lagen auf dem Grund des Sees verstreut, der orangerot schimmerte. Im hinteren Teil der Grotte standen friedlich fünf Pferde in einem provisorischen Gatter aus Strohballen zusammen. Als Veda die Grotte betrat, hob eines der Pferde den Kopf und begrüßte das junge Mädchen mit einem freudigen Wiehern. Neben dem Gatter stand ein Junge und füllte frisches Wasser in einen großen Trog. Er hielt mit der Arbeit inne und schaute auf.
»Schläft er immer noch draußen?«
»Ja, Ejnar, du weißt doch, er liebt die Natur«, antwortete Veda und strich ihrem Pferd liebevoll über die Nüstern. »Wurden die Pferde in der Zwischenzeit versorgt?«
»Ja, wir sind fertig. Die anderen haben sich schlafen gelegt. Nur ich bin wach.«
»Dann ruh jetzt auch. Wenn es etwas Besonderes gibt, werden wir euch wecken.«
Veda lief die paar Schritte zum See hinunter, streifte sich einen ledernen Handschuh über ihren linken Arm und hob ihn hoch in die Luft. Aus der Dunkelheit der Grottenkuppel glitt der Rotmilan im Sturzflug geräuschlos herab. Nur ein leises Rauschen seiner Schwingen war zu vernehmen. Er bremste seinen Flug elegant ab und krallte sich in das Leder.
»Da bist du ja, mein Großer!«, begrüßte Veda ihren gefiederten Freund. »Es wird Zeit, für deine Runde.«
Gemeinsam mit Kasper zwängte sich Veda durch die schmale Felsspalte zurück ins Freie. Der Sturm hatte deutlich nachgelassen. Leicht rieselte die Nässe wie Tau von den Blättern und versprühte eine neblige Gischt. Zwischen den Baumkronen glänzte das helle Mondlicht und warf gespenstische Schattenspiele an die »Weißen Klippenformation«.
Bei dem Anblick besann sie sich wieder auf ihren Vater und wie sie früher gemeinsam durch Felder und Wälder streiften, um Kasper auszubilden. Er hatte ihr den Umgang mit Pfeil und Bogen gelehrt und sie in das Geheimnis der kostbaren Weidensteine eingeweiht, von denen es in den letzten Jahren immer weniger gab.
Der Greifvogel wurde unruhig und schüttelte sein Gefieder. Ulrich stand an der Kante des Felsens und schaute zu den sich im Wind wiegenden Baumkronen hoch.
»Die Wolken sind verweht. Es wird eine sternenklare Nacht. Kasper wird keine Schwierigkeiten haben, den Weg zu finden«, stellte Ulrich fest und begrüßte den Milan, indem er ihm kurz über die seidige Brust strich.
Veda befestigte einen kleinen Lederbeutel oberhalb seiner linken Klaue. Dann warf sie Kasper mit einem kräftigen Schwung in die Luft. Der Rotmilan breitete seine Flügel aus und flog lautlos in die Nacht hinein.

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