
Der Elefantenbaum
Seidenweicher Wind strich über die reifen Ähren. Die Luft war erfüllt von dem Geruch nach frisch geschnittenem Gras. Rundherum hörte man das muntere Summen der Bienen. Leuchtende Sonnenblumen säumten den wild wuchernden Wegesrand.
William war leicht und froh gestimmt, als er dem feinen Gesang einer Amsel folgte und bald darauf den Elefantenbaum an der abfallenden Talseite des Himmelreiches erreichte. Die alte Eiche senkte zur Begrüßung ihr dichtes Blätterwerk, so wie jedes Mal, wenn William sie besuchen kam. Flink kletterte er ohne Anstrengung hoch in die Baumkrone. Von hier oben reichte der Blick bis weit in das Land hinein und er machte es sich auf einem der dicken Äste gemütlich. William liebte diesen alten, knorrigen Baum, der wie eine Grenzsäule das Himmelreich markierte. Er wusste, welche verwunschenen Kräfte in ihm schlummerten und die der Baum nur ihm, William van Botterbloom, offenbarte. Die Eiche war seine Zufluchtsstätte und ein letztes Überbleibsel des vergessenen Schlaraffenlandes. Zwischen den Ästen hingen die buntesten Früchte aller Art: Saftig triefende Himbeeren, fette Brombeeren, süße Moltebeeren und die dicksten Erdbeeren, die William je gesehen hatte. Es waren alle seine Lieblingsfrüchte, die, vereint in einem hohen Glas und großzügig mit Zimt bestreut, zu einer unwiderstehlichen Waldbeerenmischung heranreiften. William tauchte ein knuspriges Gandenthaler Krüstchen tief in das köstliche Mus und biss gierig und voll Heißhunger hinein.
Majestätisch rauschte der junge Milan heran. Mit einem schalkhaften Glucksen hüpfte Kasper von Ast zu Ast, zupfte an den Blättern, rüttelte an den Zweigen, sodass es Früchte regnete. Dann landete er mit einem Satz auf Williams Oberschenkel und rollte gefährlich mit den Augen. Keck schnappte er mit seinem krummen Schnabel nach dem Krüstchen. William erschrak und versuchte, Kasper von sich abzuschütteln. Ein unbändiger Schmerz erfasste seinen Körper. Der ungestüme Greifvogel verkrallte sich in sein Bein. In Panik schlug William um sich. Aber er verfehlte ihn. Je mehr er nach ihm ausschlug, desto tiefer bohrten sich seine Klauen in das Fleisch.
Ein eisiger Wind heulte unvermittelt durch den riesigen Baum. Am Himmel zogen eisgraue Wolken auf und verhüllten das sonnige Land augenblicklich mit undurchdringlicher Dunkelheit. Der alte Elefantenbaum wogte hin und her. Um William herum brachen krachend die Äste und Früchte schossen wie Pfeile auf ihn nieder. Ein dicker Ast traf den Milan am Flügel. Kreischend ließ er von William ab und fiel taumelnd in die sich auftuende, glühende Tiefe.
»NEIN ..., KASPER ...!«, schrie William, »DU VERBRENNST! KOMM ZURÜCK! NEIN …!«
Das Echo seiner Stimme hallte ihm entgegen. Kasper tauchte in den heißen Strom ein und verschwand. William starrte versteinert unter sich. Ein Ast griff nach seinem Arm. »NEIN! LASS MICH!« William drosch auf den Ast ein, der versuchte, ihn hoch hinauf in den sich wild bewegenden Baumwipfel zu ziehen.
»WILLIAM! KOMM!«, rief der Ast und griff noch fester zu.
»NEIN! ICH WILL NICHT! ICH WILL NICHT DORT HINAUF!«
»WILLIAM! KOMM SCHON, KOMM ZU MIR!«
Die Baumkrone öffnete sich zu einer weit ausladenden, unwirklichen Finsternis, die alles und jeden zu verschlingen drohte. Der Ast setzte seine ganze Kraft ein und zerrte mit aller Macht an ihm.
»NEIN! NICHT! HILFE!«
»… nun wach schon endlich auf!«
Jemand rüttelte heftig an seiner Schulter. »William, es ist alles in Ordnung. Ich bin´s!«
»Was ist passiert?«, fragte William völlig verstört und schlaftrunken. »Wo bin ich?«
»In deinem Zimmer, du hast nur geträumt.«
»Es ist so dunkel«, flüsterte William und tastete nach seinem Onkel, der neben ihm auf der Bettkante saß. »Ist das die große Dunkelheit?«
»Welche Dunkelheit?«
»Die Dunkelheit aus meinem Traum.«
»Nein, es ist Nacht. Die Sonne geht erst in zwei Stunden auf.«
Langsam kehrte seine Orientierung wieder zurück. Nicholas saß an seinem Bett und hielt eine brennende Kerze in der Hand. Dann stand er auf. Aus der Dunkelheit des Raumes traten zwei Personen hinzu.
»Veda! Ulrich! Was macht ihr denn hier? Und wo ist Kasper? Gehts ihm gut?«
»Es ist etwas geschehen, William«, sagte Nicholas. »Besser, du stehst sofort auf!«