Geheimnisvolles Gandenthal

Im Bann der Dämonen

Für Vitus schien jedes Gefühl für Zeit und Raum verloren. Wild wuchernde, quer schlagende Äste und Sträucher griffen nach ihm, zerrten an seiner Kleidung und durchdrangen den dicken Stoff der Kutte. Er spürte ihre Berührungen wie feine Nadelstiche auf der Haut. Kalter Angstschweiß perlte über seine Stirn, tropfte schwer von den Augenlidern, rann als ein schmales, salziges Rinnsal bis in die verzerrten Mundwinkel. Der Mönch presste die Lippen zusammen. Er mochte kein Salz, schon gar nicht diese Art von Salz, die seine eiserne Beklemmung, dieses tiefe Gefühl von Verlorenheit noch verstärkte. Kräftig prustete er aus, wobei sich der Schweiß in Abermillionen Tröpfchen wie fein zerstäubender Nebel verflüchtigte.
Der schmale Pfad beschrieb eine scharfe Biegung. Holprig und steil führte er weiter abwärts. Moderiger Dunst hing flach zwischen den Pflanzen. Obwohl Vitus den Weg herabstieg und körperlich kaum eine Anstrengung verspürte, fiel es ihm zusehends schwerer, Luft zu holen.
»Hier bin ich dem Atem des Teufels ganz nahe«, dachte er bei sich und hielt unvermittelt inne. Bis auf den wimmernden Wind war die Stille allgegenwärtig. Vitus versuchte, entspannt durchzuatmen, aber der Geruch von Verwesung, der ihn schon von Anbeginn begleitete, hatte zugenommen und drang tief in seine Lungen ein. Rasch tränkte er ein Tuch mit Wasser aus der Feldflasche und presste es vor die Nase. Jetzt war der Gestank einigermaßen zu ertragen. Trotzdem nahm seine Kaltschweißigkeit zu und sein Magen verkrampfte sich. Augenblicklich wurde ihm speiübel. Er sackte in die Knie und erbrach sich.
Langsam kam er wieder zu sich. Aus der Tiefe des Grunds erklang ein leises Echo zu ihm herauf. »Bumm, bumm! Bumm, bumm!« 
Dann Stille.
Tiefste Stille.
Selbst das unheimliche Wimmern des Windes war verstummt. Dann wieder: »Bumm, bumm! Bumm, bumm!« Und jetzt kam es ohne Unterlass.
Da erkannte er, und diese Erkenntnis verblüffte ihn zutiefst, dass es sich um das Echo seines eigenen Herzens handelte, das seine Ankunft im »Tiefen Bärengrund« anzukündigen schien.
Schwerfällig kam er auf die Beine und stolperte voran. Wieder zerrten die Äste an seiner Kleidung, peitschten ihm ins Gesicht. Wie außer sich schlug Vitus wild um sich. Der Pfad verengte sich immer mehr und mehr und es schien kein Durchkommen.
Entsetzt schrie er auf. Arme drangen durch das grüne Dickicht, griffen nach ihm, warfen seinen Körper mit aller Gewalt nieder und hielten ihn am Boden fest.
»Verdammt noch mal, bleib endlich stehen!«, befahl eine energische Stimme.
Vitus holte aus und verpasste der Stimme einen mächtigen Fausthieb. Der Angreifer taumelte zurück. Kraftvoll stemmte sich Vitus vom Boden ab, robbte auf allen vieren davon, spürte den brennenden Dreck unter den Fingernägeln, den Schmerz in seiner Faust.
Doch dann geschah alles ganz schnell: Zwei schwere Körper warfen sich auf ihn. In seiner Not begann Vitus, laut zu beten.
»Vitus, komm zu dir! Bleib endlich stehen! Wir sind es, Vitus! Wir sind es!« 
Er wurde hin und her geschüttelt. Hände klatschten in sein Gesicht. Seine Wangen pulsierten. Er riss die Augen auf, warf sich herum. Vor ihm gähnte ein endloser Abgrund, schroff, felsig, entsetzlich tief. Schaudernd wich er zurück und sah in zwei besorgte, bärtige Gesichter.
»Du hast uns einen höllischen Schrecken eingejagt! Warum hast du nicht gewartet, wie abgesprochen! Wir hätten Dich fast verloren!«, rief Graf Herdan und umklammerte den Mönch mit festem Griff – als wolle er ihn nie wieder loslassen.

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