Geheimnisvolles Gandenthal

Aufbruch ins Ungewisse

Spätsommer im Jahre 103, nach dem Zerfall der Alten Welt ...

… Vince kniete vor dem Kamin und stocherte mit dem Schürhaken in der Glut. Draußen am »Stillen See« war die Dämmerung heraufgezogen. Dichter Nebel hing wie ein grauer Schleier tief über dem dunklen Wasser. Die Luft kühlte sich für diese Jahreszeit auffallend schnell ab. 
»Zu kalt«, dachte Vince, »für eine lange Reise. Viel zu kalt für ein junges Mädchen wie Lilian.«
Hinter seinem Rücken hörte er, wie Loreena den Schankraum betrat. Sie trug einen runden Flechtkorb voll mit dicken Holzscheiten.
»Bald wird sich für uns vieles ändern!«, sagte Vince.
»Wie meinst du das? Oh, Vorsicht!« Aus dem Korb rutschten einige Holzstücke heraus und polterten über die Dielen. Vince wich schnell zur Seite, konnte aber nicht verhindern, dass zwei der Hölzer ihn am Knöchel trafen.
»Tut mir leid, Vince!« Loreena lachte herzlich über ihr Missgeschick und beugte sich zu ihm hinunter. Tröstend nahm sie sein Gesicht in beide Hände und küsste ihn auf den Mund. »Ach, du Armer, es tut mir ja so leid«, flüsterte sie leise. Ihre feine Stimme und der frische Duft, den ihr Körper verströmte, bezauberten Vince. Ihre langen, kastanienbraunen Haare waren feucht vom Bad im »Stillen See« und hingen in dicken Strähnen über ihre Schultern.
»Hast du große Schmerzen?«
»Nein!«
»Pech für dich, ich hätte dir sonst die Knöchel massiert«, schmunzelte Loreena, nahm rasch ein Holzscheit vom Boden auf und warf es in die rote Glut. Wie wild barsten die Reste der glühenden Holzkohle auseinander und wirbelten als Funkenstaub in den offenen Raum hinein.
»Loreena, sei vorsichtig!«, mahnte Vince. »So ein altes Haus fängt schnell Feuer!«
»Na, wenn schon«, überging sie seine Bedenken. »Und, was wird sich ändern?«
Vince stellte sich taub und trat nach den fliegenden Funken. Noch immer spürte er ihren Kuss auf den Lippen, ihre Hände an den Wangen, das feuchte Haar in seinem Gesicht. Am liebsten hätte er die unangenehmen Dinge, die er mit ihr an diesem Abend besprechen wollte, weit, sehr weit weggeschoben.
Aber er durfte sich dem nicht entziehen, weil er Lilian sein Wort gegeben hatte, obwohl er genau wusste, dass das, was er gleich zu sagen hatte, Loreena zutiefst treffen würde. Aber es gab kein Zurück und er gestand sich ein, dass sie auch nicht ganz unschuldig war. Er spürte einen Kloß im Hals und dann nahm er all seinen Mut zusammen.
»Du hast Lilian verraten, dass Herdan ihr leiblicher Vater ist.« Seine Stimme klang abfällig. 
Loreena schaute Vince überrascht an.
»Sie hat mit dir gesprochen?«
»Am See, heute Mittag.«
»Sie ist alt genug, um es zu erfahren!« Loreena sprach wie eine Mutter, die fest zu ihrer Entscheidung stand.
»Sie ist erst sechzehn Jahre alt. Was hast du erwartet? Dass sie sich damit abfindet, dass ich nicht ihr richtiger Vater bin?« Vince war verärgert. Mit der Rückseite seiner Hand wischte er sich das Gefühl des Kusses von seinen Lippen. Dadurch ging es ihm aber nicht besser. Er merkte, dass er die Sache falsch anging. Nur gegen seine Emotionen, die sich zu einer flammenden Eifersucht zusammenballten, konnte und wollte er sich nicht wehren.
»Du hast immer gewusst, auf was du dich einlässt. Du hättest ebenso gehen können, wie alle anderen.«
»Aber ich bin geblieben«, entgegnete Vince.
»Ja, weil du es nicht ertragen konntest, mich so leiden zu sehen. Ich bin dir dafür dankbar. Aber du bist nicht Lilians Vater und meine Tochter hat ein Recht darauf zu erfahren, wessen leibliches Kind sie ist.«
Vince brauste auf.
»Er hat dich und Lilian im Stich gelassen und dir sogar die Schanklizenz entzogen. Und dann dieser Vorwand, ich sei verflucht. Ich bitte dich, Loreena, welcher Vater tut so etwas?«
Vince sprang auf die Beine und breitete die Arme aus. »Schau dich doch um, was ist aus deiner Wirtschaft geworden? Ich sehe hier niemanden sitzen und trinken!«
Spöttisch verzog er das Gesicht. »Er wollte dir schaden, und warum, weil er zum Grafen berufen wurde, und da passte eine Wirtin mit ihrem Kind nicht in seinen Plan.«
»Und du, Vince?« Loreena blieb gelassen. »Als Herdan hier einzog, bist du gegangen.«
»Ja, weil ich es nicht ertragen konnte, dich mit ihm zusammenzusehen. Und erwähne seinen Namen bitte nicht in meiner Gegenwart. Die Erinnerung an ihn macht mich rasend!« Vince schäumte. Seine Gefühle explodierten. Er versuchte trotzdem, sich mit aller Gewalt im Zaum zu halten.
»Vince! Hör mir zu! Du warst es, der damals aufbrach, das Abenteuer zu suchen und das »Stille Gebirge« zu überqueren, obwohl du dir der Gefahr bewusst warst. Erinnere dich bitte daran!« Herausfordernd sah sie ihn an. Sie wollte, dass sich Vince seiner Verantwortung augenblicklich stellte. 
»Du warst viele Jahre fort, und als du wieder aufgetaucht bist, hast du allen von dem Land jenseits des Gebirges erzählt. Viele fürchteten, ein Fluch hätte von dir Besitz ergriffen. Aber sie konnten ja nicht erahnen, dass dir die Begegnung mit den Bewohnern jenes Landes solch einen Reichtum an Wissen, Sprache, Kunst und innerer Reife bringen würde. Damit waren alle hier überfordert. Ein einfacher Stallbursche wusste auf einmal mehr vom Leben, wusste mehr über Dinge, die jenseits ihrer Vorstellungskraft lagen und ihnen bis dahin fremd waren.
Das Einzige, wozu sie fähig waren, war dich und uns zu verstoßen. Lilians Vater war ein gläubiger Mensch, er glaubte an diesen Fluch, glaubte an das, was die Leute sprachen, und er fürchtete sich vor dir. Dann verließ er mich und Lilian. Sicher, du bist immer noch eifersüchtig auf ihn. Dabei hast du überhaupt keinen Grund dazu! Es ist jetzt schon über vier Jahre her. Meinst du etwa, mich drängt es, Graf Herdan zu Weidenfels wiederzusehen? Wenn ja, hast du dich aber gewaltig getäuscht! Ich möchte mit dir zusammen sein. In deiner Nähe fühle ich mich sicher und geborgen. Das musst du mir glauben, Vince!«
Er nickte. Langsam kam er wieder runter. Um sich zu beruhigen, warf er ein paar Holzscheite in den Kamin nach. 
»Lilian wird bald aufbrechen, um auf die Wanderschaft zu gehen«, sagte er.
»Irgendwie habe ich es geahnt, dass dieser Tag kommen wird.« Loreena klang gefasst. 
»Dann hast du nichts dagegen einzuwenden?«
 »Sollte ich? Sie ist eine virtuose Lautenspielerin. Eine begnadete Musikerin. Viele der Menschen werden sich an ihrem Spiel erfreuen können. Es wird ihr Leben bereichern.« 
»Aber es geht nicht!«, wiegelte Vince ab.
»Warum nicht?«
»Das ist kompliziert.«
»Dann erkläre es mir.«
»Die Laute gehört dem Volk hinter dem »Stillen Gebirge.««
»Ich verstehe nicht. Was haben diese Leute mit Lilians Laute zu schaffen?«
»Ich habe sie damals mitgenommen.«
»Du hast sie gestohlen?«
»Nein, sie war ein Abschiedsgeschenk auf Zeit. Es ist merkwürdig, aber die Laute lässt sich dort nicht zum Klingen bringen. Ich habe ihnen versprochen, den Grund dafür herauszufinden.«
»Aber, ich finde, sie klingt wundervoll!«, schwärmte Loreena.
»Ja, genau das ist das Problem! Die Klänge der Laute reichen bis weit zum Gebirge hinauf und an manchen Tagen, wenn der Wind günstig steht, von dort bis zu ihnen ins Tal hinunter. Sie haben Lilian spielen gehört. Ich habe sie heute selbst gesehen. Sie standen auf dem geheimen Gebirgspass und lauschten der Musik. Sie werden nicht zulassen, dass Lilian mit der Laute von hier fortgeht. Und wenn doch, werden sie Leute entsenden, um die Laute zurückzuholen.«
»Droht Lilian Gefahr?«, wollte Loreena wissen.
»Willst du eine ehrliche Antwort? Ich weiß es nicht!«
»Vince, Lilian liebt ihre Laute! Wir können sie ihr unmöglich wegnehmen!«
»Wir haben keine andere Wahl. Wenn ich es ihr erkläre, wird sie es schon verstehen, da bin ich mir sicher«, sagte Vince.
»Dann lass uns jetzt schlafen gehen. Ich werde langsam müde. Es ist spät. Morgen werden wir gemeinsam mit Lilian darüber sprechen.«
»In Ordnung! Geh du schon vor. Ich bleibe, bis das Feuer verglimmt.«
Loreena nickte, gab ihm einen Gutenachtkuss und verließ den Schankraum.

Vince saß eine ganze Weile nur so da und starrte vor sich hin. Gegen Mitternacht nickte er ein. Als das Knistern des Feuers endlich verstummte, erhob sich aus dem Schatten der Empore eine schlanke Gestalt. Leise huschte sie hinüber zu einer kleinen, versteckten Tür, die nach draußen über eine Treppe in den zum See abgewandten Teil des Hofes führte. Hier war die Dunkelheit vollkommen. Die Gestalt kannte sich bestens aus und schlich raschen Schrittes den schmalen Grasweg entlang. In gebückter Haltung lief Lilian zur Brücke hinunter, kauerte sich hinter einen der Holzpfeiler und lauschte. Im alten Wirtshaus war es ruhig geblieben. Niemand, weder Vince noch ihre Mutter, hatten ihren Fortgang bemerkt. Dann übersprang sie mit einem weiten Satz den Bach und hangelte sich auf allen vieren die gegenüberliegende Böschung hoch.
Aus einem geheimen Hohlraum zwischen zwei quer verlaufenden Bohlen holte sie einen Stock, ihre Laute und einen voll bepackten Rucksack hervor. Sie trat zurück auf den Grasweg und lief im Schutze der Fischerhütten an den Feldern entlang. Hunde bellten. In einigen Häusern brannten noch vereinzelt Kerzen. Als sie die Anhöhe erreichte, blickte sie zurück. Jetzt waren auch die letzten Lichter im Dorf erloschen. Das Hundegebell war verstummt. Es herrschte tiefste Stille, so wie immer, hier am »Stillen See«.
»Lebt wohl! Ich werde euch beide unsagbar vermissen«, flüsterte sie. »Aber es ist meine Bestimmung – und der muss ich folgen.« Lilian drehte sich um und die Schatten der Nacht verschluckten sie.
Unten am See stand Vince. In der Ferne erkannte er eine dunkle Silhouette, die die Anhöhe emporstieg, bevor sie aus seinem Blickfeld verschwand. Es brauchte für Vince nicht die Weitsicht eines Propheten, um zu wissen, dass es Lilian war, die da in die Wälder eintauchte.

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