
Auf der Rutsche des Lebens
Zum zweiten Mal an diesem Tag war William überzeugt, dass sein Leben ein dramatisches Ende nehmen würde. Als die Felsenwippe nach vorne abkippte und er verzweifelt versuchte, sich an irgendetwas festzuhalten, begann für ihn erneut eine Fahrt ins Ungewisse. William wollte schreien, Ulrich etwas zurufen, aber seine Stimme versagte, versagte vor grenzenlosem Erstaunen: Unter ihm tat sich die unendliche Weite des Universums auf und offenbarte William all ihren Reichtum und ihre Schönheit. Millionen, Abermillionen von Sternen funkelten am tiefschwarzen Firmament, leuchteten in den brillantesten Farben. Sternschnuppen schossen am endlosen Himmel dahin, explodierten lautlos in einem Feuerwerk aus Licht und Staub. Junge Sterne entstanden, bildeten oder formierten sich aufs Neue, um in der endlosen Weite des Universums wieder zu verglühen. Und dann begann alles von vorn. Es wirkte auf William wie die perfekt eingespielte Choreografie des Lebens. Die Fähigkeit zu einem friedlichen Nebeneinander der unterschiedlichsten Arten, die gegenseitige Erweisung von Respekt, von Geburt an bis über den Tod hinaus.
Die letzten Stunden schienen weit, weit entfernt. Alles Vergangene war zu einer unbedeutenden Winzigkeit geschrumpft.
Der Weidenstein hatte sich deutlich beruhigt. Er saß auf Williams rechter Schulter und strahlte sein kleines rötliches Licht voraus. Nur ab und zu gab er leise gurrende Laute von sich.
Zusehends verblassten die Sterne. Wie in einem Theater kippte die Kulisse nach hinten ab, als würde ein neues Thema entstehen. Der Hintergrund aber blieb schwarz. Verworrene Lichterspiele huschten darüber.
William Körper wurde nach vorne getragen und nahm langsam Fahrt auf. Wie auf einer riesenhaften Rutsche ging es mal abwärts dann wieder aufwärts, abwärts und aufwärts.
Bilder und eigentümliche Szenen tauchten auf, zunächst verschwommen, dann immer deutlicher, schließlich gestochen scharf, rauschten sie an ihm vorüber. Es waren vertraute Gesichter darunter, seine Freunde aus dem Weidenthal, Ulrich, Veda gemeinsam mit Kasper, Onkel Nicholas in der Bibliothek, die Feldhüter und ihre leblosen Körper im Gras. Sein Vater erschien. Eine Hütte und dann ein Lagerfeuer. Etwas Merkwürdiges schlängelte sich durchs Gebüsch. Eine Schlange! Die Szene vermittelte Gefahr und Hinterlist. Und dann immer wieder dieser Nebel: In den himmlischsten Farbnuancen zog er durch die Unendlichkeit des kosmischen Raumes und trug die Gerüche von Vanille und Rosen mit sich.
Immer schneller wurde die Fahrt. Die Bilder jagten an ihm vorüber. Für einen flüchtigen Moment glaubte er, das Gesicht seiner Mutter Marie Louise zu erkennen, wie sie auf einer blühenden Sommerwiese saß und ihn anlächelte. Die einzig übrig gebliebene Erinnerung an seine Mutter war ein Bild, das sein Onkel auf dem Kaminsims in seinem Zimmer aufbewahrte. Eine Träne löste sich. Dann war auch dieser Eindruck schon wieder verflogen.
Der Strom der Bilder verebbte. Unverhofft aufkommende Winde zerrten an seiner Kleidung und rüttelten ihn kräftig durch. Immer heftiger ging es voran. Das rote Licht des Weidensteins hüpfte auf und nieder. Die Fliehkräfte verstärkten sich. Schwer wurde William in eine lang gezogene Kurve gedrückt. Er konnte spüren, wie sich der Druck auf seinen Körper vervielfachte. Sein Puls stieg bedrohlich an. Sein Herz klopfte ihm bis zum Hals. Er bemerkte im Augenwinkel, wie der rote Weidenstein versuchte, sich schützend unter seinem Hemdkragen zu verkriechen. Im letzten Schein des erlöschenden Lichtes erkannte William zu seinem Entsetzen, dass sie direkt auf eine Mauer zusteuerten. Ein ohrenbetäubender Knall hallte auf, als William die Wand durchbrach.
Stille!
Einsame Stille umgab ihn, die er versuchte, sich mit inneren Worten begreiflich zu machen.
Er wusste, dass er lebte, dass er wieder einmal, und das nun schon zum wiederholten Male an diesem Tag, eine Todesfahrt lebendig überstanden hatte. Er begriff auch, dass seine Zeit, von dieser Welt Abschied zu nehmen, noch nicht gekommen war. Er befand sich wie in Trance. Die Stille war erdrückend.
Aber er war nicht taub. Denn deutlich hörte er in der Ferne ein Geräusch. Zunächst war es nur ein feines Summen, wie das einer Biene. Doch rasend schnell wuchs es zu dem eines herantosenden Zuges. Jetzt mischten sich Schreie und kreischende Laute darunter.
Er riss die Augen auf, sah, wie sich die Mauer aus rotem Ziegel mit einem lauten Knall teilte und Ulrich und Veda, kurz darauf gefolgt von Cinja, Arvid und Ejnar auf ihn zustürzten. Mit übermenschlicher Anstrengung rollte er sich schützend zur Seite, um nicht von den Steinen erschlagen zu werden. Seine Freunde purzelten heran, überschlugen sich mehrfach und blieben ineinander verkeilt liegen.
»Wahnsinn! Wahnsinn! Was für eine Fahrt!«, rief Ulrich und japste nach Luft. Er lag zuunterst, nur sein Kopf schaute heraus. »Jetzt geht schon endlich runter von mir!«, rief er und ruderte mit den Armen. Langsam lösten sich die Weidenreiter aus ihrer Verknotung.
»Ich wusste ja, Veda, dass dein Bruder sie nicht alle beisammenhat. Aber das er so bekloppt ist, hätte ich nicht gedacht.« Cinja richtete sich auf und zupfte ihre Kleidung zurecht.
»Wo du hingehst, Will, da gehen wir auch hin«, gab Ulrich großspurig von sich.
»Na klar! Damit Gevatter Tod sich schon mal auf etwas freuen kann«, erwiderte William und rieb sich die Schläfen. »Mir ist immer noch ganz duselig von der Rutschpartie!«
»Nett hier! Wo sind wir eigentlich gelandet?«, fragte Ejnar, der seine muskulösen Arme und Beine auf eventuelle Blessuren untersuchte, aber nichts Besonderes feststellen konnte.
»Wir stecken in einem unterirdischen Gang fest. Muss ein Kellergewölbe sein«, bemerkte Arvid.
»Kann mir jemand sagen, warum die Wand nicht in Trümmern liegt?«, fragte Ejnar völlig erstaunt.
»Genau, das habe ich mich auch gerade gefragt.« Cinja stand an der Mauer und untersuchte die Ziegel. »Nichts zu entdecken. Nicht der kleinste Hinweis auf eine geheime Öffnung.«
»Du wirst keine Öffnung, keine geheime Tür oder etwas Ähnliches finden, Cinja.«, sagte Veda und lehnte sich gegen einen Stützpfeiler. »Wir waren gerade auf der »Rutsche des Lebens« unterwegs«, erklärte sie ihren Freunden. »Vater hat mir oft davon erzählt. Er lehrte mich viel über die geheimen Wunder dieser Welt. Er sagte einmal, wenn ich auf solch eine Rutsche stoßen würde, und er wäre nicht mehr unter uns, dann würde ich ihm dort begegnen können.«
Eine Träne rann über ihre Wange. Langsam glitt sie an dem Pfeiler nach unten.
»Ich habe ihn gesehen … und Kasper auch. Sie sind fort – tot!«