Geheimnisvolles Gandenthal

Die bleierne Zeit

Die Sekunden verstrichen. Minute um Minute verrann. Stunde um Stunde verging. Endlos schien der Raum. Etwas in ihm war zerbrochen. Die Bibliothek verkam zur unwichtigsten Nebensache der Welt. Im Leben von Nicholas gab es nur wenige Momente, in denen sein sonst so besonnenes Gemüt aus der Fassung gebracht werden konnte.
Er verstand das menschliche Dasein, als eine ewige Suche nach dem wahren Sinn des Lebens. Sein Wirken, sein Handeln waren geleitet von innerer Ruhe und mentaler Stärke. Nur menschliche Verluste, die wie gespenstische Schatten seine Vergangenheit durchzogen, betrachtete er alle als seine ganz persönlichen Niederlagen, die unweigerlich Trauer und Selbstzweifel hinterließen. Egal, ob er unmittelbar als Arzt daran beteiligt oder nur stiller Betrachter war. 
In dem Augenblick, als die Zeiger seiner Taschenuhr die Mittagszeit mühelos überwanden, ohne dass sich der kleinste Laut, oder ein vorsichtiges Kratzen oder Klopfen an der schweren Tür gezeigt hätten, spürte er in der Tiefe seines Herzens jenes alles erschütternde Gefühl des Versagens. 
Er fühlte sich elend müde - und schon zu alt für diese Aufgabe. Er verfluchte die Generation seiner Ur- und Großväter und die seines Vaters, der ihm diese Rolle hinterlassen hatte. Er war sich bewusst, dass sich hinter alledem ein schweres Erbe verbarg. Ein Entrinnen aus diesem seit Jahrzehnten vorbestimmten Ablauf schien unmöglich.
Gedankenschwer erhob sich Nicholas aus seinem Sessel.
»Wo willst du hin?«, fragte Sir Robert mit sorgenvoller Miene, aber Nicholas blieb ihm die Antwort schuldig.
Er wusste genau, was auf ihn zukam, was von ihm erwartet wurde im Falle des Versagens. Wehmütig strich er mit den Fingerspitzen über die einzelnen ledernen Buchrücken. In wenigen Stunden würde alles hier der Vergangenheit angehören, pulverisiert zu einem Haufen Sandkörner im endlos scheinenden Universum.
Im Grunde forderten die Regeln keinen weiteren Aufschub. Sie lagen bereits zwei Stunden über dem vereinbarten Zeitpunkt. Das geheime Treffen, die große Zusammenkunft - sie würde nicht mehr stattfinden. Die Geschichte der Bibliothek nahm hier nun ihr Ende.
»Ich werde das nicht zulassen, Nicholas!«, redete Sir Robert weiter, der die Gedanken von ihm erriet. »Niemand in diesem Raum verlangt von dir, das zu tun.«
Patrick horchte auf. Er saß Sir Robert gegenüber und beobachtete ebenfalls mit ernster Miene, wie Nicholas an den Regalen entlang schlurfte.
»Was verlangt keiner von ihm?«, fragte er.
»Dass er sich für uns und die Bibliothek opfert. Hab ich recht, Nicholas?« Robert erhob sich und schritt hinter seinem Freund her.
»Was weißt du schon davon? Dir hat man ja nicht diese schwere Bürde aufgeladen.«
»Das stimmt, aber diese Bibliothek hat schon etliche Generationen überdauert und sie wird weiter existieren. Bleib bitte stehen, damit wir vernünftig darüber sprechen können.«
Nicholas hielt inne und drehte sich zu Robert um.
»Du irrst! Niemand von uns wird die Zerstörung der Bibliothek aufhalten können«, sagte er mit trauriger Stimme. »Ihr Schicksal ist durch den Lauf der Geschichte vorbestimmt und wir gehören im Augenblick zu ihren Wegbereitern, da wir unfähig sind, uns gegen Anfeindungen zur Wehr zu setzen. Schon immer war dieser Ort geprägt durch die Herrschaft der vier Elemente: Erde, Wasser, Feuer, Luft und wir sind hier nur ihre Gäste. Solch einen Ort findest du nirgends wieder auf der Welt. Er ist so voller Reichtum. Er ist vollkommen. Hier unten verschmelzen die Lebensadern unserer Erde. Wir werden den Niedergang der Bibliothek nicht aufhalten können, so sehr ich es mir auch wünschen mag. Wahrscheinlich ist es dir noch nicht aufgefallen, Robert, aber das Licht wird langsam schwächer, der Luftstrom nimmt bereits merklich ab und in wenigen Stunden wird es hier unten bitterkalt sein. Der jetzt noch sprudelnde Felsquell wird verebben und alles wird sich zu Asche verwandeln, wenn wir es nicht schaffen sollten, diesen Ort in den nächsten Stunden mit Leben zu erfüllen. Aber wie es aussieht, wird es nicht mehr dazu kommen. Niemand ist in der Zwischenzeit zurückgekehrt. Weder die Weidenreiter mit William, noch die Grafen und der Herzog sind bei uns eingetroffen. Und von Kasper fehlt ebenfalls seit Stunden jedes Lebenszeichen. Wir müssen deshalb davon ausgehen, dass ihnen allen etwas zugestoßen ist - und dass unsere Widersacher sich bereits auf dem Weg hierher befinden. Sollte es ihnen letztlich gelingen, die Bibliothek einzunehmen, so bin ich gezwungen, die Selbstzerstörung dieses Ortes zu beschleunigen. Dazu benötigt es nur wenige Handgriffe. Ihr seht, wir schweben in größter Gefahr!«
Robert sah sich entmutigt im Raum um. Jetzt wurde ihm gewahr, dass das Atmen schwerer fiel und das die Leuchtkraft der Fackeln nachließ. Es war ihm bislang nicht weiter aufgefallen. Angestrengt dachte er nach.
»Was können wir tun?«, fragte er.
Die Antwort kam zögerlich.
»Ich darf diesen Ort nicht verlassen, solange draußen Unklarheit herrscht. Darum gibt es für uns nur die eine Möglichkeit: Ich schicke euch beide in den »Tiefen Bärengrund« hinunter, um nach den Grafen zu suchen.«
»Nein!«, sagte Robert mit fester Stimme. »Ich werde alleine gehen. Patrick wird bei dir bleiben. Es ist noch nichts verloren!« Er ergriff seine Jacke, warf sie über und eilte zur breiten Flügeltür. Den Knauf in der Hand drehte er sich ein letztes Mal um.
»Ich bin bald wieder zurück, Nicholas. Und bitte unternimm nichts, dass du später bereuen könntest. Und du, Patrick - pass auf, dass er keine Dummheiten macht!«
Sir Robert betrat den Vorraum. Mit wachen Sinnen auf das Unabwendbare gerichtet, auf das, was nun folgen sollte, schloss er die Augen und atmete tief durch. Leise fiel die Tür hinter ihm ins Schloss.

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