Geheimnisvolles Gandenthal

Die Großmeisterin 

Herbst im Jahre 103, nach dem Zerfall der Alten Welt ...

Der Stock traf sie peitschend am Oberarm. Einen Moment war sie unachtsam gewesen. Ihr Lehrmeister verbeugte sich höflich. 
»Du kannst dir im Kampf keine Unaufmerksamkeit erlauben, Lilian. Der Gegner könnte dich verletzen, oder es kann für dich tödlich enden.«
»Verzeiht, Meister. Ihr habt recht. Ich war nur einen Augenblick abgelenkt.« Sie rieb sich die schmerzende Schulter. »Kommt nicht wieder vor.«
Marlon Marcoon lächelte. »Morgen ist deine letzte Prüfung. Bist du bereit dazu?«
»Ja, ich bin bereit!«
»Dann ruh dich jetzt aus. Wir treffen uns morgen kurz nach Sonnenaufgang wieder.«
Lilian verbeugte sich höflich und lief die wenigen Schritte zum Fluss hinunter. Sie zog ein Leinentuch hervor und tränkte es mit dem Wasser. Dann legte sie das kühlende Tuch auf Oberarm und Schulter. Die Wirkung setzte rasch ein, der Schmerz verebbte.

In den letzten Wochen war einiges geschehen. Lilian hatte sich Marcoon angeschlossen und gemeinsam waren sie durch das Mühlthal gewandert. Ihr anfängliches Misstrauen gegenüber ihrem älteren Begleiter war schnell verflogen. Trotz des Alters und seiner Erblindung war Marcoon bestens in Form. Lange Wanderungen stellten für ihn kein Problem dar. Und er sollte recht behalten: Ihre Verfolger hielten Abstand zu ihr. Marcoon wirkte wie ihr persönlicher Schutzschild. Trotzdem war ihr bewusst, dass sie sich ihren Verfolgern eines Tages würde stellen müssen. Allein schon, um zu erfahren, was die beiden Männer, die ihr wie ein Schatten folgten, von ihr wollten. Bis dahin genoss sie die Gesellschaft des Alten und versuchte möglichst viel von ihm zu lernen. Die Gespräche, die sie führten, waren von tiefgründiger, philosophischer Art: anregend, fantasievoll und geistreich zugleich. Sie sprachen oft über die belebte Natur, über das Zusammenspiel zwischen der Tier- und Pflanzenwelt. Es war eine aufregende Zeit für Lilian. Er erklärte ihr, dass alles miteinander verbunden sei und dass Eingriffe von Menschenhand fatale Folgen für die Natur bedeuten würden. Er sprach über die geheime Fähigkeit der Bäume und Pflanzen, sich untereinander auszutauschen. »Bäume und Pflanzen kommunizieren«, sagte er. »Sie verständigen sich über ihre Wurzelfäden mit Pilzen im Boden, um lebenswichtige Befehle weiterzuleiten. Die Pilze machen das aber nicht umsonst. Sie erhalten von den Bäumen eine Belohnung: Zucker! Du siehst, alles hängt irgendwie zusammen.« 
Er war auch bewandert darin, ihr die unbelebte Natur näherzubringen. Lilian erahnte bis zu diesem Zeitpunkt nicht, wie fesselnd man über einen Gesteinsbrocken philosophieren konnte. 
Marlon Marcoon war in den vergangenen Tagen und Wochen ihr persönlicher Lehrmeister geworden und sie seine hoffnungsvolle und aufmerksame Schülerin. Für Lilian stellte diese Zeit einen wichtigen Lebensabschnitt dar. 

In der Kunst des Stockkampfes betrat sie dank ihres Lehrmeisters eine neue Ebene. Sie war davon ausgegangen, Vince hätte ihr in den vergangenen Jahren schon einiges beigebracht, aber ihr Training, welches ihr Marcoon angedeihen ließ, sprengte bislang alles da gewesene. 
Er trainierte sie darauf, im Kampf sich nur auf ihr Gehör zu verlassen. In Zukunft übte Lilian mit einer abgedunkelten Augenmaske und verfeinerte dadurch nicht nur die Führung ihres Stockes. Ihre Schlagkraft wurde kraftvoller, ihre Abwehr- und Angriffstechniken verbesserten sich. In der Ausführung wurde sie genauer und dadurch treffsicherer.
Marcoon trainierte zudem ihre Ausdauer, indem er sie im Laufschritt durch die Wälder jagte. Sie machte täglich Kräftigungsübungen für Arme und Beine. Sie trug Baumstämme auf den Schultern die Hügel hoch und wieder hinunter. Die gesamte Muskulatur ihres Körpers wurde gekräftigt. Lilian war fit wie nie, und für die kommenden Aufgaben gestärkt.
Und morgen früh kam ihr großer Tag. Wenn sie die Prüfung bestehen sollte, würde sie den Rang einer Großmeisterin innehaben. Lilian war aufgeregt, aber keine Spur von Furcht belastete sie. Sie war sich ihren Fähigkeiten bewusst, trotz des kleinen Ausrutschers von vorhin. Der Schmerz im Oberarm war abgeklungen. Eine leichte Blaufärbung unter der Haut war zu erkennen. 
Sie legte sich aufs Nachtlager und schlief traumlos ein.

Lilian stand auf einer Lichtung. Die frühen herbstlichen Sonnenstrahlen erwärmten ihr Gesicht. Marcoon legte ihr eine abgedunkelte Maske über die Augen. 
»Deine Prüfung beginnt jetzt. Konzentriere dich nur auf dein Gehör und du wirst sehend sein«, sprach er und trat ein paar Schritte zurück.
Lilian lauschte. Der Wind raschelte im Gras. Von Ferne hörte sie ein leises metallisches Klappern. Schritte waren zu vernehmen, die sich ihr vorsichtig näherten. Unbekannt waren ihr die Geräusche nicht, die da an ihre Ohren drangen. Es gab für Lilian keine Zweifel: Es waren die Geräusche ihrer Verfolger. 
Langsam kamen sie näher und gingen in Stellung. Was hatte Marcoon vor? Wollte er, dass sie sich ihren Ängsten stellte. Aber sie verspürte keine Angst, eher Neugierde auf das, was nun folgen würde.
Wochen hindurch hatte sie die beiden Männer studiert. Jeder ihrer Schritte, jede ihrer Bewegungen verfolgt. Sie kannte die Stärken und die Schwächen der beiden Männer. Nichts konnte sie mehr überraschen.
Ihr Atem ging ruhig. Ihren Stock führte sie nahe an ihrem Körper. Geräuschlos bewegte sie sich, um die Positionen der beiden Männer auszumachen. Ein schleifendes Geräusch, als würde jemand ein Messer langsam aus einem Lederköcher ziehen, ließ sie aufhorchen. Dann durchschnitt das Messer die Luft. Hin und her bewegte sich das Messer in der Hand des Angreifers. Mal sprang es nach links, mal nach rechts hinüber. 
Der andere Mann hielt sich bedeckt im Hintergrund. Hinter ihrem Rücken bewegte er sich seitwärts, Stück für Stück auf sie zu.
Beweglich wie eine Katze sprang der Mann mit dem Messer frontal auf Lilian zu. Der Angriff kam von rechts außen, auf Hüfthöhe. Ihr Stock wirbelte herum, und stoppte abrupt die Bewegung seiner Hand. Der Stich ging ins Leere. Federnd ging sie in die Knie, holte aus und hebelte den Angreifer von den Beinen. Krachend und stöhnend schlug er hart auf dem Boden auf. Dann sprang sie über ihn, rammte ihm den Stock in den Solarplexus. Schmerzvoll rang der Mann nach Luft. 
Das Ende ihres Stockes erfasste das am Boden liegende Messer und beförderte es in die Höhe. Sie ergriff die Waffe, nahm die Klinge zwischen ihre Finger und schleuderte das Messer dem zweiten Angreifer mit aller Wucht entgegen. Der Griff schlug brachial gegen seine Stirn. Taumelnd brach er bewusstlos in sich zusammen.
Plötzlich erklangen Schritte hinter ihr. Der Mann hatte sich von dem Stoß erstaunlich schnell wieder erholt. Sie wurde davon überrascht. Er packte sie brutal von hinten. Sie steckte fest, wie in einem Schraubstock. Lilian stieß ihren Stock mit beiden Händen stützend in den Boden hinein, um nicht umzufallen. Vergeblich versuchte sie sich, mit den Oberarmen aus der Umklammerung zu befreien. 
Der Mann war kräftig, zu kräftig für sie. Er stemmte sie mühelos hoch, warf sie mit einer geschickten Bewegung rücklings über seine Schulter, sodass sie einen Salto schlug. Fast wäre sie auf den Beinen zum Stehen gekommen, aber der Schwung des Wurfes ließ sie stolpernd nach hinten fallen. Der Mann trat schwerfällig heran. Seine Hand versuchte Lilian am Kragen zu packen. Mit einem gezielten Unterarmstoß wehrte sie den Angriff ab, rollte sich am Boden liegend seitlich weg und sprang wieder auf die Beine. Der Mann war schnell und umklammerte erneut ihren Oberkörper. 
Für einen Moment zögerte er – ein Fehler. Lilians Stock traf ihn seitlich an der Hüfte. Die Umklammerung lockerte sich. Sie rutschte nach unten weg, machte einen Ausfallschritt nach vorne und stieß mit dem Ellenbogen zu. 
»Zack! Zack!« Sein Kopf ruckte nach hinten. Der Mann keuchte und wankte. Lilian hob ab. Ein Tritt gegen die Brust warf ihn endgültig zu Boden. Er schlug lang hin und rührte sich nicht mehr.
Stille! 
Vollkommene Stille!
Nur ihr Atem war zu hören.
Langsam blinzelnd nahm sie die Augenmaske wieder ab. Verblüfft trat Lilian einen Schritt zurück.
Marlon Marcoon stand vor ihr und lächelte. Seine sonst so trüben Augen schimmerten so grün wie feuchter Tau auf Moos. Seine Blindheit war verschwunden und seine sonst so zarte Erscheinung war der eines kräftigen, schlanken Mannes gewichen. Nur sein faltiges Gesicht und sein langer weißer Bart, deuteten auf sein wahres Alter hin, das weit jenseits jeder Vorstellungskraft lag. Er machte eine tiefe Verbeugung. 
»Fürchte dich nicht, Lilian! Ich bin der Zauberer Marlon Marcoon und du bist eine meiner gelehrigsten und geduldigsten Schülerinnen gewesen. Dafür danke ich dir. Jetzt bist du eine Großmeisterin! Wir beide werden immer im Geiste verbunden sein, so wie ich einst mit meiner Tochter, Vivien, von der ich dir erzählte. Gehe nun weiter in die Welt hinaus. Dort warten viele Aufgaben auf dich. Ich gehe jetzt in meine Welt; zurück in das Reich der Zauberer. Halte unsere gemeinsame Zeit in Ehren. Erinnere dich daran, in guten, wie in schlechten Zeiten. Wenn du mich brauchen solltest, rufe nach mir und ich werde Seite an Seite mit dir eins sein.«
Lilian musterte Marcoon. Dann nickte sie wissend. Sie verneigte sich. »Ich werde mein Lebtag mit Euch verbunden sein, Meister! Ich werde unsere gemeinsame Zeit in Ehren halten. Und ich werde Euch immer zu Dank verpflichtet sein.« 
Marcoon nickte zum Abschied, drehte sich um und verschwand wie urplötzlich abziehender Nebel im Morgengrauen. 
Lilian war alleine. Ihre Verfolger waren ebenfalls in dem Grau der Nebelwand verschwunden. Sie stand auf der Lichtung und fühlte sich unendlich müde, unendlich einsam, aber in ihrem Dasein tausendfach bereichert. Und dafür war sie Marlon Marcoon unendlich dankbar. 

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