
Vitus´ Bestimmung
Doch all das wirkte weit entfernt. Sein Leben war ein einziger Kampf, mit Höhen und Tiefen, wobei die Tiefen seit Monaten deutlich überwogen. Er würde sein Leben ändern wollen, und das möglichst bald. Aber da war dieses Treffen, eine Aufgabe, die ihn voll einnehmen und von ihm alles abverlangen würde. So sehr er sich bemühte, Lilians Klängen zu lauschen – seine dunklen Vorahnungen holten ihn immer wieder ein.
»Leute! Wir sind zu früh! Viel zu früh!« Herdans Finger gruben sich tief in seinen dicken, blonden Haarschopf. Er walkte seine Kopfhaut mit den Fingern.
Die Laute verstummte.
»Was?« Eligius schüttelte verständnislos den Kopf.
»Wir sind zu früh!«, wiederholte Herdan.
»Sind wir nicht. Hast du beim Rechnen in der Schule nicht aufgepasst?«, fragte Eligius spitz. »Wir waren sieben Tage unterwegs. Also ist heute der siebte Tag nach dem Jahreszeitenwechsel, und es ist früh morgens. Wir sind voll im Zeitplan.«
»Genau!«, rief Herdan aus. »Das ist es! Wir sind nicht zu früh, wir sind zu spät!«
»Oje, so ein Unsinn, Herdan!«
»Doch, denk mal nach! Unser Treffen findet immer einen Tag vor der Zusammenkunft hier im »Tiefen Bärengrund« statt. Ha, ha! Das ist es! Die sind schon alle weg und schlemmen in der Bibliothek!«
»Sie würden nie ohne uns gehen, das weißt Du. Hab ein bisschen Geduld, Herdan!«.
»Was für eine Bibliothek denn?«, fragte Lilian neugierig. Sie kramte in ihrem Rucksack herum.
»Nur so eine Bibliothek halt«, antwortete Herdan.
»Nur so eine Bibliothek halt. Pah!«, äffte Eligius ihn mal wieder nach. »Was bist du doch für ein Schwachkopf!«
»Eligius will damit sagen, dass es sich um eine ganz besondere Bibliothek handelt«, mischte sich Vitus ein, um einen weiteren Streit zwischen den beiden Grafen frühzeitig zu unterbinden. »Dort lagern sämtliche Schriften und Dokumente über die zwölf Grafschaften des Nordlandes. Sie wurden über Generationen hinweg von den bedeutendsten Frauen und Männern des Landes niedergeschrieben, gesammelt und archiviert. Ein recht imposantes Stück Zeitgeschichte. Ich kann es kaum erwarten, sie endlich zu Gesicht zu bekommen.«
»Du warst nie dort?« Lilian war überrascht.
»Nein, der Zutritt zur Bibliothek ist nur den Eingeweihten gestattet. Aber ab heute Mittag werde auch ich dazugehören.«
»Kann ich mitkommen?«, wollte Lilian wissen.
»Klar doch! Du bist meine Tochter!« Herdan strich liebevoll mit der Faust über Lilians Kinn.
»Daraus wird nichts! Das weißt du genau!«, sagte Eligius entschieden.
»Und du hältst dich zurück!«, sagte Herdan barsch. »Meine Tochter kommt mit, basta!«
»Wenn du meinst! Dann wirst du das aber allein zu verantworten haben!«
»Ich bin schon ein großer Junge, Eligius! Hoppla, ein ganz Großer sogar. Ich bin Graf! Graf Herdan zu Weidenfels! Alles klar?«
»Und wie wurde dir diese Ehre zuteil?«, wollte Lilian von Vitus wissen.
»Ich, äh ..., eigentlich …«
»Komm schon, Vitus, erzähl es mir!« Lilians wasserblaue Augen sprühten vor Neugierde.
»Ja, genau! Erzähl es uns!« Eligius Stimme klang belustigt. »Wir wollen alle gerne wissen, welchem Ereignis wir deine Anwesenheit zu verdanken haben.«
»Lasst Vitus doch in Ruhe! Er ist für eine wichtige und schwierige Aufgabe bestimmt.«
»Hört, hört«, witzelte Eligius.
»Ist schon recht, Herdan! Im Moment wiegt sie nicht so schwer, wie es allenthalben scheint. Es gab einmal in meinem Kloster eine merkwürdige Begebenheit. Ich werde in der Bibliothek nach Aufzeichnungen suchen, um Näheres darüber zu erfahren.«
»Bitte erzähl es uns«, bat Lilian.
»Also gut, es ist ein Ereignis, was sich vor vielen Jahrzehnten in unserem Kloster zugetragen hat: Es begab sich einmal, dass ein unbekannter Pilger an die hölzerne Pforte der alten Abtei von Amelungsburg klopfte und um Einlass erbat. Er war heruntergekommen, die Kleidung völlig zerlumpt und sein Körper brannte im Fieber. Die Mönche gaben ihm Obdach, wuschen seinen Leib, säuberten die Wunden, reichten ihm Speis und Trank. So sehr sich meine damaligen Ordensbrüder in den darauf folgenden Tagen und Wochen auch bemühten, seinen Geist der irdischen Welt zu erhalten, entzog er sich doch immer mehr ihrer medizinischen Künste und entschlief im Wahn.
Für die Mönche hinterließ sein Tod eine schmerzliche Leere und sie haderten mit sich und ihrem Schöpfer.
Abt Cornelius, ein mutiger und weiser Mann, nahm die übrig geblieben Habseligkeiten des Fremden an sich. In dem Rucksack des Verstorbenen entdeckte er eine alte Schriftrolle. Er rollte das vergilbte Papier vorsichtig auseinander und las die Botschaft. Nachdem er geendet hatte, veränderte sich das Leben im Kloster, in den Grafschaften und im ganzen Land von Grund auf. Ich bin hier, um den Ursprung jener Ereignisse zu ergründen. Es ist davon auszugehen, dass jene Schriftrolle in der Bibliothek gelagert ist. Es wird nicht leicht sein, sie unter den vielen Papieren und Dokumenten zu finden. Ich weiß nicht einmal, wo ich mit meiner Suche beginnen soll. Ich hoffe aber, dass mir jemand dort helfen wird. Ich hörte von einem Jungen mit einer geheimnisvollen Schreibmappe. Vielleicht ist dieser Junge ja der Schlüssel zu meinen Fragen.«
»Wie heißt der Junge?«, wollte Lilian wissen.
»Sein Name ist William. Mehr ist mir nicht bekannt, und wenn Gott will, werde ich ihn dort antreffen.«