Siebente Woche
Eine Gottheit

Ein Grieche in Manhattan

In Gedanken versunken trat der alte Mann an die lichtdurchflutete Glasfront und schaute hinaus. Fünfundachtzig Etagen unter ihm, auf der Fifth Avenue, brodelte das Leben von Midtown Manhattan.
Es war Sommer. Der Himmel präsentierte sich wolkenlos, erstrahlte in einem tief Dunkelblau. 
Vorbeihuschende schwarze Schatten rissen ihn aus seiner Gedankenwelt. Er sah genauer hin. Zwei Raben segelten heran und setzten sich direkt vor ihm auf die Brüstung. 
Ein wissendes Lächeln umspielte seine Mundwinkel. Dann erhob er zur Begrüßung seine Hand und verneigte sich. 
Es klopfte an der Tür und eine junge Frau trat ein. »Ein Mr. Odin wünscht, sie zu sprechen.« 
»Ja! Vielen Dank, Layla! Soll hereinkommen.«
»Zeus! Was für eine Freude!« Ein Mann schob sich an Layla vorbei ins Zimmer. 
»Odin! Nach all der Zeit sehen wir uns endlich wieder!« Beide Männer fielen sich in die Arme. »Und wie elegant du aussiehst.« Zeus klopfte Odin freundschaftlich auf die Schulter. 
»Das ist die moderne Zeit, mein lieber Zeus. Giorgio Armani, Karl Lagerfeld, Joop. Mein Schrank steckt voll von diesen Modekünstlern. Du hast dich aber auch prima gehalten. Dein Bart ist kürzer. Steht dir! Siehst jünger aus.«
»Ich muss mit der Zeit gehen.«
»Das sieht man. Ein modernes Büro hoch über den Wolken. Eine Chefsekretärin zum Anbeten. Du bist jetzt Rechtsanwalt? Erstaunliche Karriere!«
»Ja, aber komm, setzen wir uns.« Zeus führte Odin zu einer Sitzgruppe aus braunem Büffelleder. Vor ihnen auf dem Tisch standen zwei Hörner mit süßem Wein gefüllt.
»Gemütlich!« Das Leder knirschte. Odin grinste. »Was für eine Aussicht. Aus der Distanz betrachtet, wirkt alles gleich leichter und unbeschwerter.«
»Lass uns anstoßen, Odin! Auf unser Wiedersehen!« Die Männer prosteten sich zu. 
»Dein Auge, Odin. Es sieht so gesund aus.«
»Moderne Chirurgie. Hab ich in Chicago machen lassen.«
»Und Hugin und Munin ...«
»Es sind meine treuesten Gefährten. Ich bin halt der Rabengott. Aber nun sag, was machst du als Rechtsanwalt in Manhattan?«
»Ich verwalte das rechtliche Erbe unserer griechischen Götter, mich eingeschlossen natürlich. Aber im Grunde sorge ich mich um unser Erbe.«
»Du sorgst dich? Wie soll ich das verstehen?« Odin nahm einen Schluck von dem Met. 
»Kannst du dir unsere griechische Siegesgöttin als einen Schuh vorstellen? Oder meinen Sohn Hermes als einen Paketzusteller?«
»Das nennt sich »Modernes Marketing«, mein Freund. Hier!« Odin legte seinen Fuß auf den Tisch. 
»Das ist das Neuste vom Neusten! Ein High – Tech - Schuh vom Feinsten. Zur Zeit der Renner auf dem Markt. Mit Luftdämpfung. Leuchtet sogar im Dunkeln. Den würde selbst deine griechische Siegesgöttin tragen.«
»Trotzdem, ich sehe darin eine Verunglimpfung unserer Göttlichkeit. Den Menschen fehlt der Respekt vor uns Göttern.« 
»Hör auf dich zu beschweren. Die Menschen verehren die griechischen Götter, bis heute.« Odin musste schmunzeln. »An jeder Ecke begegnet mir ein Name aus der griechischen Mythologie. Oder glaubst du, du könntest sie mit deinem Donnerkeil noch erschrecken.«
»Der funktioniert nicht mehr.«
»Genau, weil Blitz und Donner, die vier Jahreszeiten, der Verlauf der Sonne wissenschaftlich begründet wurden. Du lebst in ihren Produkten weiter, die sie konsumieren. Was für eine Ehre, die dir zuteilwurde.«
»Glaubst du?« 
»Mein Freund, du bist ein Glückskind in jeglicher Hinsicht. Nach mir wurde ein Hundehalsband und eine Seife benannt!« 

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