Geheimnisvolles Gandenthal

Tivedar

»Du hast da ein wunderbares Instrument!«
Lilian sah überrascht auf. Einer der Leibgardisten stand vor ihr.
»Danke!«, sagte sie knapp und erkannte gleichzeitig in ihm einen ihrer Gegner aus dem Stockkampf.
»Was machen deine Rippen?«, wollte sie wissen.
Der junge Mann betastete seinen Oberkörper. »Es wird langsam besser. Der Mönch gab mir eine Medizin. Es brennt zwar, aber es scheint zu helfen. Darf ich mich zu dir setzen?«
Lilian nickte.
»Ich heiße Tivedar«, stellte er sich vor und kniete sich zu ihr ins Moos.
»Ich bin Lilian!«
»Du bist doch die Tochter von Graf Herdan, richtig?«
»Vitus scheint nicht viel für sich behalten zu können.«
»Ich habe ihn vorhin nach dir gefragt«, erklärte Tivedar entschuldigend und lächelte. Beide sahen sich prüfend an.
Lilian musste sich eingestehen, dass ihr der junge Mann auf Anhieb gefiel. Sie überlegte kurz, ob sie sich für den sauberen Hieb, mit dem sie ihn vorhin vorübergehend in das Land der Träume befördert hatte, entschuldigen sollte. Aber sie unterließ es.
Sie schätzte ihn zwei oder drei Jahre älter. Seine feinen, freundlichen Gesichtszüge hatten so gar nichts von einem Kämpfer und seine höfliche, zurückhaltende Art zeugte von einer guten Kinderstube. Sie war sich sicher, dass Tivedar adeliger Herkunft sein musste. Dieses war immerhin die persönliche Leibgarde des Herzogs und normal Sterbliche wurden dort nicht aufgenommen. Sie ahnte, dass sie ihn nicht unterschätzen durfte. Auf seiner Wange unterhalb des linken Auges erkannte sie im Schein des Feuers eine schmal verlaufende Narbe.
»Du bist eine exzellente Kämpferin«, sagte Tivedar den Blick ins Feuer gerichtet. »Wer hätte jemals gedacht, …«
»... dass du von einer Frau besiegt wirst?«, vollendete Lilian seinen Satz.
Tivedar lächelte und sah Lilian direkt an.
»Du hast mir keine andere Wahl gelassen - ich habe mich nur verteidigt.«
»Wer war es, der dich in dieser Kampfkunst einst unterrichtete?«
»Mein Vater!«
»Graf Herdan?« Tivedar war überrascht.
»Nein!« Lilian musste lachen. »Entschuldige! Es war mein Ziehvater! Graf Herdan hat uns vor einigen Jahren verlassen. Meine Mutter lebt inzwischen mit einem anderen Mann zusammen, der mich in dieser Kampfkunst unterwies. Herdan, meinem leiblichen Vater, begegnete ich heute nach langer Zeit wieder. Ich habe ihn gesucht, weil…« Sie hielt inne und senkte den Kopf. Tivedar bemerkte, wie Lilian innerlich mit sich kämpfte, ob sie sich ihm weiter anvertrauen sollte. Er hielt sich zurück und wartete.
Dann sah sie auf. 
»Ich wollte ihn töten. Ihn sterben sehen. Aber ich war vermutlich nicht bereit dazu. Eine Stimme in mir sagte, dass es nicht rechtens wäre, Graf Herdan, meinen Vater, zu richten, obwohl er mir und meiner Mutter schwer geschadet hat. Seinetwegen haben wir fast alles verloren. Erst mit der Hilfe von Vince wurden wir wieder eine Familie.«
Bei der Nennung des Namens stutzte Tivedar und sein Gesicht nahm eine strenge, unterkühlte Härte an, die Lilian erschreckte.
»Vince? Ich kannte einmal jemanden mit diesem Namen.«
»Du kennst ihn?« Lilian spürte eine gewisse Unsicherheit in sich aufsteigen. Die zunächst geglaubte innere Verbundenheit mit Tivedar, die sie dazu gebracht hatte, sich ihm zu öffnen, war mit einem Schlag weg.
»Könnte sein. Kannst du ihn mir beschreiben? Wie sieht er aus?«
»Nein, kann ich nicht! Vielleicht solltest du jetzt besser gehen.«
»Was ist hier los, Töchterchen?« Herdans breiter Schatten fiel auf Tivedar. Sein Kopf war mit einem weißen Stück Stoff verbunden.
Der Leibgardist erhob sich augenblicklich. »Ich gehe wieder zu meinen Leuten. Doch ich glaube, deine Mutter ist in großer Gefahr. Wenn du mich sprechen möchtest, dann weißt du ja, wo ich bin!«
Dann drehte er sich um und ging.

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