
Nicht verwendetes Kapitel in der Geschichte
Vier Monate vorher, vor dem Beginn der Frühlingsferien
Auf verschneiten Pfaden
Seit Sonnenaufgang waren sie unterwegs. Eisige Windböen wirbelten feine Kristallwolken vor ihnen auf. Der Schneesturm, der Mensch und Tier in den letzten Stunden alles abverlangte, ließ langsam nach. Ihre Stiefel und Kleider waren durchnässt. Jeder Schritt schmerzte. Jede Bewegung ihrer Hände erstarb in dem Gefühl von beklommener Taubheit. Die vor ihnen liegende Landschaft, eine Mischung aus flachen Tälern und sanften Hügeln mit kleinen, verstreuten Waldungen, präsentierte sich eingehüllt wie in eine Decke aus weißer Watte. Vereinzelt schimmerten Sonnenstrahlen zwischen lose daherfliegenden, eisgrauen Wolkenfetzen hindurch und ließen den frisch gefallenen Schnee in den unterschiedlichsten Farben glitzern.
Lohmis hielt schützend seine Hand vor die Augen und nahm die Umgebung näher in Augenschein.
»Ob sie uns gefolgt sind?«, fragte er blinzelnd ins Sonnenlicht.
Der Hüne neben ihm folgte seinem Blick.
»Sieht nicht danach aus. Es ist weit und breit, niemand zu sehen. Du musst dir von daher keine Sorgen mehr machen. Der frische Schnee hat unsere Spuren überdeckt«, sagte Nicholas. »Wir haben es bald geschafft.«
Über das Gesicht von Lohmis huschte ein Lächeln der Erleichterung.
»Heute Abend werden wir wieder zu Hause sein. Bleibt nur, deine Möbel unbemerkt ins Haus zu schaffen. Aber ich glaube, das kriegen wir hin. Die Nachbarn werden alle in der Kirche versammelt sein - denn heute ist ja Heiligabend.«
»Ich hoffe«, überlegte Lohmis, »William nimmt es uns nicht allzu übel, dass Weihnachten für ihn mehr oder weniger ausfällt.«
»Ach, Unsinn! Ich habe mit ihm darüber gesprochen. Er hatte ein Einsehen. Ab morgen früh sitzt er auf Stühlen und nicht mehr auf dem Fußboden. Da schmecken die Gandenthaler Krüstchen an dem neuen Tisch gleich doppelt so lecker. Aber lass uns jetzt weiterziehen, wir haben noch ein langes Stück Weg vor uns.«
Nicholas griff nach dem Halfter des Zugpferdes und das hoch beladene Fuhrwerk setzte sich augenblicklich in Bewegung. Mühevoll stampften sie weiter durch den kniehohen Schnee. In der Ferne waren die ersten vertrauten Umrisse des Himmelreichs zu erkennen. Das Ziel greifbar, aber doch so fern.
Von dort aus betrachtet, wirkten Lohmis und Nicholas wie zwei kleine, unscheinbare schwarze Punkte. Aber die beiden Feldhüter auf dem Ansitz, wussten nur zu genau, wer sich dort in den Schneemassen abmühte.
»Schau mal einer an. Da sind sie ja wieder«, staunte Pit und reichte Linus seinen Feldstecher. »Weihnachten scheint ja in diesem Jahr ziemlich üppig auszufallen.«
»Mal sehen«, Linus hob das Fernglas und stellte es auf sich ein. »Sieht danach aus. Und die Strauchdiebe, die ihnen auf den Fersen waren, sind verschwunden. Möchte nur zu gerne wissen, wie die beiden das angestellt haben.« Der Oberfeldhüter schwenkte das Fernglas über die schneebedeckte Landschaft. »Weit und breit ist von den Strolchen keiner mehr zu sehen. So ein Schneesturm ist doch manchmal für etwas gut.«
»Ja, besonders in ihrem Fall, wenn man unentdeckt bleiben möchte«, sagte Pit. »Und, was machen wir nun?«
»Nichts, es ist Weihnachten.«
»Bist du dir da sicher, Linus?«
»Dass heute Weihnachten ist? Vollkommen!«
»Nein, du weißt, was ich meine.«
Linus setzte den Feldstecher wieder ab und sah den jungen Feldhüter überrascht an.
»Ich bin ganz Ohr!«
»Erst stibitzt dieser Schreiner die Möbel aus seiner Werkstatt und täuscht damit seine Gläubiger. Dann schafft er sie Monate später wieder heran. Das ist gegen Recht und Gesetz!«
»Es sind nur Vermutungen. Sie konnten ihm nichts nachweisen und das weißt du auch.«
»Und was ist das dort? Auf dem Karren hat er bestimmt nicht nur Leseholz und Reisig geladen.«
»Lass es gut sein, Pit. Kümmern wir uns lieber um unsere eigenen Sachen. Es ist manchmal schlauer, ab und zu ein Auge zuzudrücken. Wer weiß schon, wofür es eines Tages gut sein kann. Einverstanden?«
Pit überlegte. Dann grinste er verschmitzt.
»Einverstanden!«
»In Ordnung! Lass uns bald abhauen. Es scheint so, die beiden kommen auch ohne uns ganz gut klar.«
Zusehends legte sich die Nacht über die weiße Landschaft. Die Schatten der Bäume wurden länger und länger, als Lohmis und Nicholas den Anstieg zum Himmelreich passierten. Jetzt war es nicht mehr weit. Beide freuten sich auf William, auf einen warmen, gemütlichen Heiligabend – mit neuen Möbeln, duftendem Gebäck und heißer Schokolade.