
Auf geheimer Mission
Frühlingsanfang im Jahre 104, nach dem Zerfall der Alten Welt ...
Abt Vitus streifte die Kapuze seiner braunen Kutte zurück und ließ sich auf einen Baumstumpf nieder. Der Abt wirkte erschöpft. Vitus öffnete den Rucksack, griff sich ein Stück Brot und nahm etwas Wasser aus einer Feldflasche zu sich. Sein lichtes Haar war ergraut, das hagere Gesicht faltig, vom Wetter gegerbt, nur die hellblauen Augen verrieten eine gewisse Jugendlichkeit, die er sich bewahrt hatte. Schon früh, lange vor den ersten Sonnenstrahlen, hatte er, unbemerkt von seinen Ordensbrüdern, das Kloster Amelungsburg verlassen und war zu einer geheimen Mission aufgebrochen. Er nannte sie »Des Teufels Abgrund« und bei dem Gedanken daran, lief ihm ein eiskalter Schauer den Rücken hinunter. Obwohl er den Namen des Teufels nie in den Mund nahm, war jener dennoch in seiner fantasiereichen Vorstellung über den »Tiefen Bärengrund« allgegenwärtig. Dort drunten hauste der Höllenfürst, dessen war er sich absolut sicher!
Der Bärengrund teilte sich in zwei Waldabschnitte: In einen »Hohen« und einen »Tiefen Bärengrund«, wobei vom Erstgenannten ein reizvoller Wanderweg ins »Himmelreich« hinüberführte.
In den »Tiefen Bärengrund« gelangte man der Beschreibung nach, nur über einen geheimen Zugang, der sich dem Kundigen kurz vor dem Übergang ins »Himmelreich« offenbarte. Je weiter man in den »Tiefen Bärengrund« vordrang, umso bedrohlicher wurde man von der Wildheit des Waldes eingefangen. Kein Licht der Sonne vermochte je das dichte Blätterwerk zu durchdringen; nur ein feuchtschwüler, modriger und manchmal nach Verwesung stinkender Wind fegte über den engen Pfad in die Tiefe, so, als würde er dem Mutigen den Weg weisen.
Abt Vitus war ein Mann des Glaubens, und so erhoffte er sich göttliche Kraft und Heil für seine Reise in den Abgrund. Er gab sich der Hoffnung hin, dass die anderen, die sich gleichzeitig auf dieser Mission befanden, seinen Weg kreuzen würden, um mit ihm gemeinsam den Pfad zu beschreiten. Aber kein Mensch war an diesem frühen Morgen weit und breit auszumachen, er war alleine mit sich und der Natur.
Ein hektisches Flattern im Roggenfeld ließ ihn aufhorchen. Abrupt sprang er auf, schaute sich angstvoll um. Zwei Rebhühner erhoben sich kreischend in die Lüfte. Er erahnte zwar, dass ein Fuchs oder irgendein anderes Raubtier sie aufgeschreckt haben musste, und ihm persönlich somit keine Gefahr drohte, trotz alledem ergriff er flugs seinen Rucksack und eilte davon.
Vitus sprang über einen kleinen Bach, rannte durch eine Ansammlung von jungen Fichten, rutschte eine Böschung hinunter, rappelte sich wieder auf und stoppte erst, nachdem er in der Ferne den vertrauten Anblick des »Himmelreiches« mit der alten Burgruine im Hintergrund erblickte. Es war jetzt nicht mehr weit und er betete inständig, dass er bald auf einige der Landesgrafen treffen würde.
Er brauchte eine Stunde bis zu der Stelle, die den Anfang des Wanderweges vom »Hohen Bärengrund« ins »Himmelreich« markierte. Hier oben herrschte völlige Windstille und die angenehme Wärme der morgendlichen Sonne verwischte die letzten Nebelschwaden in den Tälern. Hinter einem herrlich duftenden Wachholderstrauch, der zwischen zwei Bergkiefern wuchs, lag der geheime Zugang in den »Tiefen Bärengrund«.
Er sah sich um. »Juniperus communis, du immergrüner Strauch, komm, zeige dich!«, sprach Vitus laut vor sich hin und erinnerte sich zurück an die Wachholderernte, an die schwarzblau bereiften, fleischigen Beerenzapfen, die sie im Kloster zu Gin und Genever verarbeiteten. Das Wasser lief ihm im Munde zusammen. Er sehnte sich danach, dass es schon Herbst wäre – und er durch die klösterlichen Gewürzgärten streifen und die reifen Früchte ernten könnte.
Aber soweit war es nicht, und wenn seine Mission scheitern sollte, dann würden Wochen vielleicht sogar Monate vergehen, bis er wieder zurück ins Kloster käme.
Im Grunde aber waren es die warmen Tage des beginnenden Frühlings, die Vitus in den langen und dunklen Wintermonaten so sehr vermisste ...