
Glück im Unglück
»HEUGABEL UND SCHURKENPACK!«, fluchte Sir Robert, und beugte sich über die schlafenden Feldhüter. »Die Kerle sind uns doch wahrhaftig entwischt!«
»Seltsam«, wunderte sich Patrick, der kopfschüttelnd in der Mitte des Glockenzimmers stand und gedankenversunken die Stricke durch seine Hände gleiten ließ. »Wie haben die das nur gemacht?«
»Was meinst du?«
»Sehen Sie mal, Sir, ihre Fesseln sind nicht zerschnitten. Ob da jemand nachgeholfen hat? Vielleicht jemand von uns?«, rätselte Patrick.
»Nein, das glaube ich nicht«, sagte Sir Robert. »Das darfst du noch nicht einmal denken! Auf unsere Leute ist Verlass!«
»Schon gut! Sie haben recht.« Patrick deutete mit einer Kopfbewegung in Richtung der Feldhüter. »Und, wie bekommen wir die beiden jetzt wieder wach?«
»Es gäbe da eine Möglichkeit, Patrick!« Beim Klang der Stimme fuhren die Männer erschrocken herum. In den Lichtkegel der Petroleumlampe trat ein Mädchen. Ihre schwarzen Haare waren zu einem festen, langen Zopf geflochten. Auf dem Rücken trug sie einen Jagdbogen, am Gürtel hing ein Köcher voll mit Weidenpfeilen, daneben eine Zwille und ein rötlicher Beutel aus Leder. Sie war bekleidet mit einer grünlich schimmernden Kutte und ihre Füße steckten in geflochtenen Schuhen.
»Veda!«, riefen die Männer fast wie aus einem Munde. »Erschreck uns doch nicht so!«
Die Weidenreiterin schaute amüsiert.
»Wie lange beobachtest du uns denn schon?«, fragte Patrick.
»Nicht allzu lange. Übrigens, Fesseln nützen bei Andys Mannen überhaupt nichts. Sie sind wie Schlangen!«
Schweigen in der Runde.
»Ich sehe schon, ihr hattet keine Ahnung!« In Vedas Worten schwang ein gewisses Unverständnis mit. »Die Feldhüter sind von roten Weidensteinen getroffen worden. Es handelt sich womöglich um jene, die wir gestern gegen Mittag in der Scheune zurücklassen mussten. Jemand von Andys Leuten muss die Steine vor eurem Eintreffen auf dem Dachboden gefunden haben.«
»Ja, das heißt nein.« Irritiert von Vedas smaragdgrünen Augen kam Robert ins Stocken. »Ich kam leider zu spät. Linus hat eure drei Steine zuerst gefunden und sie Pit zur Aufbewahrung übergeben. Was, wie man sieht, nicht erfolgreich war. Einer davon wurde zerstört, als er ihn am Scheunentor ausprobierte.«
Veda machte eine ernste Miene. »Dann können wir davon ausgehen, dass Andy jetzt über zwei rote Weidensteine verfügt. Wir sollten sie ihm wieder abjagen, bevor er hinter ihre Geheimnisse kommt. Aber erstmal wecken wir unsere armen Feldhüter auf.«
Veda holte aus dem Lederbeutel einen hellblauen, funkelnden Stein heraus und legte ihn auf ihre Handfläche. Der Stein glitzerte magisch wie Sternenstaub. Augenblicklich wurde der Raum in ein blau-weißes Licht getaucht.
Patrick platzte fast vor Neugierde. »Ist das etwa ein Diamant?«, fragte er.
»Nein, ein blauer Weidenstein«, gab Veda ehrlich zur Antwort.
»Meine Liebe, bist du dir sicher?« Man findet manchmal wertvolle Sachen in den Wäldern.«
Veda schmunzelte, während Sir Robert dem Gespräch amüsiert folgte. »Es gibt wichtigere Dinge im Leben als Diamanten, Münzen und Zier, lieber Patrick.«
»Ja, schon richtig! Du bist dir vollkommen sicher, dass das ein blauer Weidenstein ist und kein Diamant?«
»Vollkommen sicher, Patrick, vollkommen!«
Sie spannte den Stein in die Zwille und feuerte ihn in Richtung der schlafenden Feldhüter ab. Patrick zuckte erschrocken zusammen. Der Stein pfiff schrill durch den Raum, zog einen blauen Sternenschweif hinter sich her und traf auf eine urplötzlich erscheinende rötliche Wolke, die die beiden Feldhüter wie Nebel umgab. Glitzernder blauer Sternenstaub legte sich wie Puder auf die Wolke, hüllte sie ein, um kurz darauf in Abermillionen feiner Teilchen zu zerplatzen, die glühend zu Boden niederrieselten. Einen Atemzug lang schien es, als würden die alten Holzdielen Feuer fangen. Es zischte, als wenn Wasser auf eine heiße Herdplatte trifft – dann verebbte das Glühen, und die Dunkelheit kehrte zurück. Nur das matte, warme Licht der Petroleumlampe blieb zurück, warf flackernde Schatten an die Wände und ließ die Gesichter der Umstehenden wieder klarer hervortreten. Die Magie war verflogen – doch der Augenblick blieb.
Veda steckte das Zwillengeschoss zurück an ihren Gürtel und wandte sich um.
»Wohin gehst du? Was ist mit Pit und Linus?«, fragte Patrick.
»Keine Sorge, die beiden wachen gleich wieder auf. Nur der Kopf wird ihnen noch ein wenig Schmerzen bereiten, aber ansonsten sind sie in Ordnung.«