
Feuer und Luft
Je intensiver sie darüber nachdachte, desto mehr wünschte sie sich zurück nach Hause, zurück an den Platz, der für sie Heimat bedeutete. Sie würde Vince zur Rede stellen und diesmal keine seiner billigen Ausflüchte akzeptieren. Sie wollte die Wahrheit über seine Vergangenheit endgültig herausfinden – und wenn es sein musste, auch mit den Mitteln, die er ihr einst gelehrt hatte.
Ihre Aufgabe war im Grunde erfüllt. Sie war ihrem leiblichen Vater wieder begegnet und konnte ihm sogar verzeihen. Auf die eine oder andere Art hatte sie ihn in den paar Stunden, die sie wieder vereint waren, ein wenig lieb gewonnen. Er war ungestüm, mutig und ein richtiger Draufgänger, ein Bär von einem Mann, von seiner Denkart her simpel gestrickt, aber jemand, auf den sie sich voll und ganz verlassen konnte und genau das gefiel ihr an ihm. Sie war sich bewusst, dass keine Kraft dieser Welt sie jemals wieder von Herdan trennen könnte. Dafür würde sie jederzeit eintreten, sogar mit ihrem Leben.
Eine leichte Berührung am Arm holte sie wieder in die Wirklichkeit zurück.
»So, Lilian, jetzt werden wir für ein wenig Stimmung sorgen«, sagte Herdan und griente dabei schelmisch übers ganze Gesicht. Unter seinem Hemd zog er einen kleinen Beutel hervor und mit einem Schwung schüttete er den sandigen Inhalt ins Feuer.
Eine kleine Ewigkeit schien nichts zu passieren. Das Feuer knisterte weiter munter vor sich hin. Niemand sprach ein Wort. Alle Blicke waren auf die Feuerstelle gerichtet.
An Lilians Wange zog ein kühler, unangenehmer Lufthauch vorbei, und instinktiv wandte sie den Kopf in diese Richtung. Aber da war nur Vitus, der gebannt in das Feuer starrte.
Doch dann, wie von unsichtbarer Hand berührt, fielen die Flammen in sich zusammen und die Glut erstarb. Die kleine Gruppe umfing tintenschwarze Dunkelheit. Es wurde empfindlich kalt. Lilian fröstelte. Ein Grollen, wie das eines heraufziehenden Gewitters, rumorte in der Tiefe und plötzlich begann der Boden, unter ihren Füßen zu erbeben. Lilian schloss die Augen und versuchte, sich auf ihre Hände zu konzentrieren. Sie wollte auf keinen Fall den Kontakt zu Herdan und Vitus verlieren und so griff sie fest zu. Sie öffnete die Augen. Vor ihr klaffte quer durch den Kreis ein tiefer, glühender Spalt. Ströme von heißer Lava flossen direkt an ihnen vorüber. Funken sprühten aus dem Inneren der Erde empor. Um sie herum zischte und donnerte es.
Erschrocken traten einige der Leibgardisten ein paar Schritte zurück. Der Zug an ihren Armen verstärkte sich. Stechender Schmerz durchschoss ihr lädiertes Handgelenk. Glühende Feuerbälle wirbelten durch die Luft und explodierten mit fürchterlichem Getöse über ihren Köpfen. Neben sich hörte Lilian Vitus laut ein Gebet sprechen. Mit wortreicher Inbrunst verdammte er Tod und Teufel – und deren Helfershelfer. Aber irgendwie schien es der Situation nützlich. Als hätten Vitus Gebete Erhörung gefunden, ebbte der Lavastrom ab, bis er sich in unzähligen Verästelungen feingliedriger, wurzelartiger Gebilde verflüssigte, ehe er tief im Erdreich verschwand.
Erneut umgab sie völlige Finsternis. Der Kreis wurde wieder enger gezogen. Das Zerren an Lilians Armen ließ nach. Der Schmerz wich bis auf ein erträgliches Maß. Langsam entspannte sich ihre Muskulatur. Die Hand ihres Vaters und die von Vitus hielt sie aber weiterhin fest gedrückt. Wieder wehte dieser seltsame Lufthauch durch den »Tiefen Bärengrund«. Nur dieses Mal war er zu hören. Mit wachsender Geschwindigkeit fegte er jaulend und klagend heran. Umfing ihr Haar, berührte ihr Gesicht, tanzte über ihre Arme und Beine, zog über ihren Rücken hinweg, um letzten Endes wieder in den Tiefen der Wälder zu entschwinden. Doch zuvor entfachte er in der Spalte ein kleines Licht, das angenehm und warm schimmerte.
Golden leuchtete der Schein empor und Lilian sah im Kreis staunende, fragende, verschreckte Gesichter. Selbst Tivedars versteinerter Gesichtsausdruck war einer fahlen Blässe gewichen.
In der Öffnung zeichneten sich die Umrisse einer Treppe ab, die in das Innere des Erdreichs führte. Herdan ergriff wieder das Wort: »Dieser Weg führt uns direkt in die Bibliothek. Er ist aber mit vielen Gefahren verbunden. Wir müssen wachsam bleiben, denn wir begeben uns in das Schattenreich der »Kriechenden Kreaturen«. Jeder von euch bekommt eine Fackel. Nun lasst uns aufbrechen, denn es wird höchste Zeit!«
»Halt, wartet!« Lilian hielt ihren Vater am Arm zurück. »Ich werde nicht mit euch gehen.«
Herdans Miene verdüsterte sich. Verständnislos sah er seine Tochter an.
»Warum? Wir müssen doch zusammenbleiben!« Enttäuschung klang aus seiner Stimme. »Gerade haben wir uns gefunden und nun willst du mich schon wieder verlassen?«
»Ich weiß, Vater!« Lilian ergriff seine Hände. »Ich weiß! Aber ich werde nicht bleiben können.«
Herdan nickte stumm.
»Du wirst sicherlich deine Gründe haben.«
»Ja, sonst würde ich dich nicht darum bitten, mich ziehen zu lassen. Tivedar glaubt, dass Mutter in Gefahr ist.«
»Loreena! Ich habe diesen Namen viele Jahre nicht mehr ausgesprochen. Aber hin und wieder begleitet sie mich in meinen Träumen. Ist deine Mutter noch genauso hübsch wie früher?«
»Sie ist noch viel hübscher, als du es dir überhaupt vorstellen kannst.«
Herdans Gesicht erhellte sich.
»Tivedar!« Er wandte sich dem Gardisten zu. »Ist das wahr, was meine Tochter mir gerade erzählt hat?«
Der Angesprochene löste sich aus dem Kreis und trat einen Schritt vor.
»Ich bin mir sicher, dass sie in größter Gefahr schwebt, und man sollte sie warnen.«
»Dann wirst du mit ihr gehen.«
»Das werde ich!« Tivedar salutierte. »Ich nehme weitere zwei meiner Männer mit und die anderen werden Euch zu Eurem Schutz in die Bibliothek begleiten.«
»Danke!« Herdan sah Lilian in ihre hellblauen Augen. »Ich werde dich vermissen, Töchterchen!«
»Das bedeutet mir alles! Und dieses Gefühl wird mich begleiten, wo immer ich sein werde.«
Herdan schlang seine Arme um seine Tochter, drückte sie kräftig an sich. Zum Abschied küsste er sie liebevoll auf die Stirn.
»Und jetzt ab mit euch.« Herdan verschwand, ohne sich noch einmal umzudrehen, in dem hell erleuchteten Spalt.
»Du bist wirklich das furchtloseste Mädchen, Lilian, dem ich je begegnet bin«, sagte Vitus. Er reichte ihr ein kleines, silbernes Kästchen. »Hier drin ist deine Medizin und die von Tivedar. Ihr werdet sie sicher brauchen.«
»Danke, Vitus, danke für alles! Du bist mir ein wirklich wahrer Freund geworden. Ich werde dich in guter Erinnerung behalten und hoffe, dass du in der Bibliothek findest, wonach du suchst.«
»Ganz bestimmt«, sagte Vitus optimistisch und fügte hinzu: »Wenn du jemals Hilfe benötigst, dann wende dich vertrauensvoll an meine Ordensbrüder im Kloster Amelungsburg. Sag ihnen, dass ich dich geschickt hätte. Sie werden dir und deinen Begleitern jederzeit Schutz gewähren.«
Er zog die Kapuze über und drehte sich um. Eligius, der Lilian zum Abschied aufmunternd zu winkte, folgte Vitus und den restlichen Gardisten ins Erdreich hinab. Der Waldboden bebte leicht, als sich die Spalte hinter ihnen wieder verschloss.
Die Dunkelheit kam zurück und aus den Tiefen der Wälder fegte der geheimnisvolle Wind von Neuem heran. Heulend umbrauste er Lilian, Tivedar und seine Männer. Zerrte an ihren Kleidern, verfing sich in ihren Haaren. Das Lagerfeuer entfachte sich von selbst und versetzte den Platz in seinen ursprünglichen Zustand zurück. Dann herrschte wieder jene tiefe Stille, die Lilian vor Ehrfurcht erschauern ließ. Sie dachte unwillkürlich an Vitus, an die mysteriöse, schlangenartige Erscheinung, von dem er Lilian einst voller Angst berichtet hatte. An seine vielleicht persönlichste Begegnung mit dem Teufel, aber auch an seinen Mut, sich überhaupt hier herunter in den »Tiefen Bärengrund« gewagt zu haben.
»Warum hast du es dir anders überlegt?«, wollte Tivedar wissen.
»Es wird Zeit, nach Hause zu kommen.«
»Das ist aber nicht der einzige Grund, oder?«
Lilian überlegte.
»Nein, aber du, Tivedar, wirst genügend Zeit erhalten, es herauszufinden«, antwortete sie rätselhaft. Mit diesen Worten warf sie einen letzten Blick zurück, bog die Zweige beiseite und verschwand in den Wäldern. Die Leibgardisten folgten ihr.
Das Buschwerk war kaum zur Ruhe gekommen, als sich ein wurmartiges Wesen knapp unter der Oberfläche des Waldbodens dahinbewegte. Nahe dem Feuer teilte sich das Moos und der breite, schuppige Kopf einer riesigen Schlange stieß hervor, richtete sich auf und wuchs in die Höhe, bis sich ihr gewaltiger, dunkler Schatten der gesamten Pflanzenkuppel bemächtigte. Ihre Augen leuchteten feurig gelb im Schein des Feuers. Zischend tastete ihre schwarze Zunge die Umgebung nach fremdartigen Gerüchen ab. Eine ganze Weile verharrte sie so in dieser Stellung. Das vollkommene Bild eines geräuschlosen Jägers, kraftvoll und majestätisch, aber zugleich durchtrieben und hinterlistig, für jeden den sicheren Tod bedeutend.