Geheimnisvolles Gandenthal

Verloren im Gandenthal 

Herbstanfang im Jahre 100, nach dem Zerfall der Alten Welt ...

Wo einst ein berittener Bote des nordherzoglichen Amtes die Grenze zum öden Südland überquerte, um einen versiegelten Brief an der Pforte des Hauses Winston zu hinterlegen.
Sir Robert war zu diesem Zeitpunkt mit seiner Frau Emilie, die sich in gesegneten Umständen befand, und Patrick McBuffer, seinem langjährigen Butler und Sekretär, für einige Tage verreist. Wie der Zufall es wollte, wurde die Botschaft zunächst dem Küchenpersonal überreicht. Der zuständige Küchenchef, ein dick beleibtes, kleines Männlein, griff kurzerhand den Brief, murmelte etwas Ungehaltenes in seinen stoppeligen Bart, durchstach den Umschlag mit einem Schweinehaken und hängte ihn zusammen mit den frisch zerlegten Schweinehälften tief in den kühlen Keller hinein. Dort hing er eine Nacht lang, bis zum Mittag des darauffolgenden Tages. Dann wurde er gemeinsam mit den Schweinehälften, den Rippchen und den saftigen Koteletts zurück in die Küche befördert. Später fand ihn eine junge Magd, die den mit Blut beschmierten Umschlag in ihre Kittelschürze steckte. Bis zum Abend blieb er dort; dieses ist aber nicht genau überliefert, da die junge Magd in den hübschen Stallburschen verliebt war und die vielen Schmetterlinge in ihrem Bauch wie wild flatterten. Womöglich entglitt ihr der Brief aus der Schürze, als der Bursche sie in der Scheune drängend küsste. Dort verbrachte er eine unruhige Nacht, im herrlich frisch duftenden Heu. Als der Morgen graute, schoss eine fauchende Katze durch den Heuboden, gefolgt vom wütenden Gekläffe des Hofhundes. Abrupt stoppte der Hund, schnüffelte an dem Umschlag, leckte an dem getrockneten Blut und schwupp ...

Patrick McBuffer traute seinen Augen kaum: In aller Herrgottsfrühe lag er gemütlich schlafend in den Kissen, als er just von einem feuchten Geschlecke und Gewinsel geweckt wurde. Warmer Speichel tropfte ihm ins Gesicht und er stieß einen schrillen Schrei aus, als er in das zottelige Antlitz seines geliebten Neufundländers schaute. Draußen vor den Fenstern tobten die Elemente und der Hund vor ihm auf der Bettdecke triefte vor Nässe. Patrick meinte, ein schelmisches Grinsen in dem haarigen Gesicht seines treuen Freundes zu erkennen. Nur Hunde grinsen nicht und für einen Sekundenbruchteil starrten sich beide nur an. Dann drehte der Hund seinen Kopf ein wenig zur Seite, holte Schwung und befreite sein langes, schweres Fell von der kühlen Masse.
»Troll ...! Bitte nicht ...! Nein ..., bäh ...!« Patricks letzte Worte endeten in einem gurgelnden Laut.
»Du tollpatschiger Teddybär!«, fluchte er und gab dem großen Bären einen Schubs, sodass dieser mit einem Satz aus dem Bett sprang. Patrick hechtete hinterher. Beide rollten über den Boden. Troll war ein ungemein kräftiger Hund, der Patrick immer wieder umwarf, sobald dieser versuchte, auf die Beine zu kommen. So ging es viele Male hin und her. Troll war gewitzt. Er packte sein Herrchen mit beiden Pfoten und hielt ihn fest am Boden gepresst. Seine kalte Schnauze stupste, stieß und rieb an seinem Bauch. Patricks Bauchmuskeln fingen an zu zittern und dann prustete er herzhaft los. Er war am Bauch fürchterlich kitzelig.
Auf einmal ließ Troll von ihm ab. Sprang drei oder vier Schritte zurück und blieb brav hechelnd auf den Hinterpfoten sitzen.
»Troll, was ist los?«, japste Patrick lachend. »Gibst du schon auf? Dann habe ich gewonnen! Quatsch! Sagen wir unentschieden.«
Patrick stützte sich rücklings auf die Ellenbogen, wackelte mit den Zehenspitzen und schaute an sich herunter.
»Schau mal, was du angerichtet hast. Den Schlafanzug muss ich jetzt waschen und mein Bettzeug ebenfalls. Du kleiner, süßer Scherzbold, aber du weißt ja, ich ...« Er stutzte. Gleich neben Troll lag etwas Rotes, ja Blutiges auf dem Boden. Patrick sprang auf die Beine. Warf einen raschen Blick auf seine Hände, dann auf seine Kleidung, aber eine Verletzung war nicht zu erkennen. Er trat näher heran. Jetzt sah es aus wie ein zusammengeknüllter roter Fetzen Papier. Seltsame Sache! Vorsichtig stieß Patrick mit den nackten Zehen dagegen. Es war nicht nur ein Stück Papier, es war ein ganzer Briefumschlag mit einem Siegel.
»Nun, dann wollen wir doch mal sehen, wer uns heute geschrieben hat«, sprach er vor sich hin und hob mit spitzen Fingern das klebrige Papier vom Boden auf. Patrick verzog das Gesicht. Es war eindeutig Blut. Der Geruch von Eisen zog durch seine Nase. Und ein süßlicher Duft nach frischem Heu.
»Du hast ja einiges hinter dir, was?« Patrick kniff die Augen zusammen. »Dann wird es etwas Wichtiges sein. Danke, Troll! Das hast du toll gemacht! Bist ein prima Briefbote!« Patrick kraulte ihn unter der Schnauze. Der prächtige Hund reckte den Kopf genießerisch in die Höhe.

Nachdem Patrick in seine Pantoffeln geschlüpft, den Morgenmantel übergestreift und eilig das Schlafzimmer verlassen hatte, nahm der große Teddybär einen kurzen Anlauf. Troll flog mit einem langen Satz in die aufgewühlten Kissen hinein, hüpfte einige Male auf und ab, kippte zur Seite und blieb selig dreinblickend liegen. Briefbote spielen machte müde, Katzen jagen ebenfalls und Patricks weiches Bett würde für diesen Morgen seine Belohnung sein. Troll gähnte entspannt, leckte sich kurz über die Schnauze und schloss die Augen.

Mit wehendem Morgenmantel eilte Patrick zu den Arbeitszimmern, die eine Etage tiefer am anderen Ende des alten Herrenhauses lagen. Er war angespannt. Er kannte das Siegel! Er erahnte die Bedeutung!
Der Inhalt des Briefes würde das Leben aller hier im Hause verändern. Er würde Unruhe für die nächsten Tage und Wochen in das Leben der Winstons bringen. Die Niederkunft Emilies stand bald bevor. Wichtige Personalentscheidungen lagen vor ihm. Meist unangenehme. Es würden Tränen fließen. Und am Ende stand der gemeinsame Umzug ins Gandenthal. Genügend Arbeit für Wochen. 
Doch ein Gedanke ließ ihn innehalten. Er verlangsamte seinen Schritt und betrachtete den Brief. Auf einmal beunruhigte ihn etwas. Er hielt eine blutige Botschaft in den Händen. Wessen Blut war das überhaupt? Stammte es von einem Tier oder sogar von einem Menschen? Es behagte ihm keineswegs, dass ein so wichtiges Schreiben, mit derlei Schmutz besudelt war. Mit steigendem Unbehagen meinte er darin ein schlechtes Omen zu erkennen. Er sah Blut als das Lebenselixier jeglichen Daseins an, aber in Verbindung mit einer so überaus wichtigen Botschaft, verblasste jeder Gedanke daran. Zumal er jetzt bei näherer Betrachtung der Lage, sich überhaupt nicht zu erklären vermochte, wie Troll in sein Zimmer gelangt war. Soweit er sich erinnerte, hatte er die Tür verschlossen. Klar, am gestrigen Abend war es spät geworden und die Rückreise anstrengend, aber für Senilität war er eindeutig noch zu jung. 
Nachdenklich setzte er sich wieder in Bewegung. Raschen Schrittes durchquerte er den unteren Flur, stieß die Haupttür auf, die zu den Arbeitszimmern führte, und stutzte zum zweiten Mal an diesem Morgen: In einem gemütlichen Ohrensessel saß Sir Robert und las in einem Buch.
»Oh Gott, Patrick! Hast du mich erschreckt! Was ist passiert? Du bist ja völlig verdreckt!«

Patricks dunkle Vorahnungen bestätigten sich bislang nicht. Nur in einem behielt er recht: Die Ernennung von Sir Robert Winston zum obersten Landesrichter des Gandenthals brachte für die nächsten Tage Aufregung und Unruhe ins Haus. Von überall her erreichten ihn die besten Glückwünsche. Herzog Franziskus von Harrington kam zu Besuch und übergab Sir Robert persönlich die Ernennungsurkunde. Der zuständige Feldhüter, Linus Nix, schaute vorbei. Selbst Henricus Böck, Amtmann von Greensen, ließ es sich nicht nehmen, seine Glückwünsche dem neuen Richter eigenhändig zu übermitteln.

Und dann eines Tages war es endlich soweit. Es war Anfang Herbst und die Blätter präsentierten sich in den buntesten Farben. Gemeinsam mit seiner Frau Emilie verließ Sir Robert in einem Zweispänner seine alte Heimat und brach in Richtung Gandenthal auf. Sie hatten sich ausgerechnet, zwei Tage unterwegs zu sein. Beide hatten darauf bestanden, die Strecke nicht wie üblich mit der Eisenbahn zurückzulegen, sondern, romantisch, wie sie einmal waren, den Weg mit dem Fuhrwerk zu bewältigen. Emilies Schwangerschaft verlief ohne nennenswerte Komplikationen und die Niederkunft stand erst in den nächsten vier bis sechs Wochen bevor. Sie versprachen immer nahe der Eisenbahnlinie zu reisen, häufig zu rasten und ausreichend Nahrung zu sich zu nehmen. Beide erahnten zu diesem Zeitpunkt nicht, wie diese Fahrt ihr Leben verändern sollte.

Am zweiten Tag, es war später Nachmittag, durchschlug ein Sturm heulend das grüne Blätterdach der Baumkronen. Peitschend schlugen erdnussgroße Hagelkörner in ihre nassen Gesichter und verwandelten den sonst so sicheren Fahrweg in einen schlammigen Acker. Der Zweispänner lief immer wieder Gefahr, in den Graben abzurutschen. Robert hielt seine Frau fest umklammert, während er versuchte, das Gefährt durch das unwegsame Gelände zu manövrieren. Emilie hielt sich ihren schweren Bauch und stöhnte bei jeder Bodenwelle auf. Als werdender Vater machte er sich große Sorgen um sie. 
Die Bäume ächzten unter der Last der Wassermassen. Das angstvolle Wiehern der Pferde erstarb in dem grellen Schein einschlagender Blitze. Aufflammendes Feuer erhellte die Umgebung. Der Wagen rutschte mit der Hinterachse in den Graben, neigte sich bedrohlich immer mehr zur Seite. Die Pferde bäumten sich mit den Vorderbeinen auf. In diesem Moment verstanden beide nur zu gut, dass sie eine falsche Entscheidung getroffen hatten. Einen Wimpernschlag lang schoss ihnen der Gedanke an die anheimelnde Atmosphäre eines gemütlich dahinreisenden Eisenbahnwaggons durch die Köpfe. Dann war es vorbei. 
Krachend stürzte das Fuhrwerk auf die Seite. Holz splitterte. Hart schlug Robert mit dem Kopf auf, sein Schädel dröhnte fürchterlich. Emilie entglitt ihm aus seinen Armen. Dann wurde es Nacht um ihn herum.
Robert zitterte am ganzen Körper. Er kam wieder zu sich. Das Dröhnen in seinem Kopf hatte etwas nachgelassen, der Regen aber blieb. Es schüttete wie aus Kübeln. Durch eine Gischt aus Nässe und Dreck erblickte er Emilie am Boden liegend. Voller Schreck erkannte er, dass ihre Beine bis zur Hüfte unter dem Fuhrwerk eingeklemmt waren. Die Pferde hingen im Geschirr, lagen seitlich übereinander und traten gefährlich mit den beschlagenen Hufen aus. Mühsam rappelte er sich hoch, lief taumelnd zu den Pferden hinüber und entließ beide aus ihrem Zaumzeug. Die Rösser sprangen auf. Preschten davon. Robert sah ihnen ernüchternd nach. Aufhalten wäre sinnlos gewesen. Sie hätten ihn nur mitgerissen.
Mit einem Satz war er neben seiner bewusstlosen Frau. Mit aller Kraft stemmte er sich gegen das schwere Gefährt. Es ließ sich nicht den kleinsten Millimeter bewegen. Jetzt hätte er eines der Pferde gebrauchen können. Er sah sich um, aber die Tiere waren nirgends zu entdecken. Vorsichtig hielt er Emilies Kopf und in seiner Verzweiflung küsste er sie. Robert hatte sich in seinem Leben noch nie so hilflos gefühlt. Er wollte rufen, um Hilfe schreien, aber jeder Laut versang im Prasseln des Regens. Alles war so erbärmlich und zutiefst nutzlos.
»Spar deine Kräfte«, sagte er sich. »Hier hört dich doch keiner.« Trotzdem rief er weiter, immer weiter mit langsam erstickender Stimme. 
Unverhofft teilte sich die Gischt und ein breiter Schatten trat an das Fuhrwerk heran. Robert erkannte eine kräftige Gestalt, die mit einem sonderbaren, grünlich schimmernden Mantel bekleidet war. Von einem breitkrempigen Hut strömte der Regen über die Schultern, perlte von dem Stoff, wie Tautropfen von Blättern, einfach so ab. Der Mann fasste unter das Fuhrwerk und stemmte es mit verblüffender Leichtigkeit empor.
»Zieht sie raus!«, befahl er gegen den Sturm anbrüllend. »Jetzt!«
Robert packte Emilie an den Schultern und zog sie unter dem Wagen hervor. Dann ließ der Hüne das Fuhrwerk wieder zurückkrachen.
»Kommt mit! Dort oben ist meine Hütte! Ich nehme sie. Ihr folgt mir.«
Der Fremde trug die bewusstlose Emilie auf seinen Armen davon. Robert heftete sich an seine Fersen. Der prasselnde Regen erschwerte die Sicht. Im Eilschritt versuchte er ihm zu folgen. Dann endlich erreichten sie eine kleine Lichtung. Aus dem Schornstein einer Berghütte dampfte dicker, weißer Rauch. Im Vorbeilaufen erkannte er zwei Pferde, seine Pferde, die an der windgeschützten Seite eines Verschlags angebunden standen. Dann war der Fremde im Innern verschwunden und Robert stolperte hinter ihm her.
»Rasch Kinder, schließt die Tür!«, rief der Mann. Ein Mädchen und ein Junge, beide etwa neun Jahre alt, liefen an ihm vorbei. Die Tür fiel hinter ihm ins Schloss und augenblicklich trat Stille ein. Robert meinte, zu träumen. Er stand in einer warmen, freundlichen Hütte. Holzscheite knisterten im Kamin und heller Fackelschein erleuchtete den Raum. Das Feuer der Fackeln brannte nahezu flackerfrei und es roch nicht wie sonst nach Ruß und Rauch. Im Gegenteil, es duftete angenehm nach Kräutern, nach frisch aufgebrühtem, fremdländischen Tee und geräuchertem Schinken.
»Wir legen die Frau aufs Bett, Kinder! Veda, räum die Kissen beiseite und hol eine Decke herbei.«
Der Fremde legte Emilie vorsichtig nieder.
»Was macht Ihr hier draußen bei diesem Wetter? Wolltet Ihr euch umbringen?« 
Er zog den Mantel aus und hängte ihn zusammen mit dem Hut an einen Haken. Zu Roberts großem Erstaunen war die gesamte Kleidung des Fremden vollkommen trocken geblieben.
»Es ist lebensgefährlich, insbesondere für Eure Frau. Ihr wisst doch, sie ist hochschwanger! So ein Leichtsinn! Ihr Kind wird bald kommen, womöglich noch heute Nacht!«
Robert verschlug es die Sprache. Er brachte keinen Ton mehr hervor. Dieser seltsame Mensch behauptete, dass seine Frau heute Nacht hier in dieser Hütte am Ende der Welt gebären würde. Was für eine grauenhafte Vorstellung! Stechende Schuldgefühle durchzuckten ihn. 
»Wir müssen sie warm halten«, sprach der Fremde weiter. »Ihr Körper darf nicht auskühlen. Das wäre schlecht für das Baby, und natürlich auch für sie. Jetzt müssen erst einmal die nassen Sachen runter!«
»NEIN, das geht nicht!« Robert schrie es buchstäblich heraus.
Der Mann kam auf ihn zu und streckte ihm seine Hand entgegen.
»Ich heiße, Nicholas. Wie ist Euer Name?«
»Mein Name?« Robert ertappte sich dabei, wie er anfing, zu stammeln. Dann drückte er etwas zögerlich, die ihm gereichte Hand.
»Ja, Euer Name! Das sind übrigens Veda und Ulrich.« Nicholas zeigte auf die beiden Kinder.
»Ihr habt Kinder hier oben in der Hütte?«
»Ja, es sind meine Patenkinder, die Sprösslinge meiner Freunde. Ihre Eltern wohnen in einem Dorf nicht unweit von hier. Ihr habt sie leider vorhin verpasst; sie wollten beide vor dem Sturm zu Hause sein. Nebenbei, Ihr seid dort an der Stirn verletzt.«
Robert fasste sich etwas verunsichert an die Schläfe.
»Ist aber nur ein Kratzer! Ich mache Euch später etwas Tinktur darauf.«
»Onkel Nicholas, die Frau wacht auf!«, rief der Junge. Er stand zusammen mit dem Mädchen am Bett. Emilie bewegte sich und stöhnte leise auf.
Rasch trat Nicholas herzu.
»Sie kommt langsam wieder zu sich. Das ist gut so! Warten wir einen Moment ab. Wie ist nun Euer Name?«
»Ich heiße Robert!«, kam es zurück. »Und meine Frau«, er schluckte, »... heißt Emilie!«
Nicholas winkte Robert zu sich ans Bett.
»Ihr werdet Emilie jetzt ihre nassen Sachen ausziehen, damit ich sie untersuchen kann. Veda wird Euch dabei helfen.«
»Ihr wollt sie untersuchen?«
»Ja!«
»Das geht nicht! Ihr seid keine Wehfrau!«
»Das stimmt!« Und zu dem Jungen gewandt.
»Sei doch so nett und bring mir meine braune Tasche, Ulrich. Du weißt schon, welche.«
Der Junge strahlte übers ganze Gesicht und rannte zu einem Regal. Gleich darauf war er wieder zurück.
»Hier, Onkel Nicholas!« Ulrich reichte ihm eine lederne Tasche mit silbernem Verschluss.
»Danke, mein Jong! Und jetzt hol mir bitte das Glas mit dem, mit dem ..., na, du weißt schon welches.«
Wieder strahlte der Junge und spurtete in die andere Ecke des Raumes. Er wurde schnell fündig und brachte ein rundes, hohes, verdunkeltes Glas herbei, das Robert an ein Arzneibehältnis erinnerte.
»Vielleicht solltet auch Ihr Euch etwas Trockenes anziehen! Ulrich wird Euch Kleidung bringen.«
Mit diesen Worten öffnete Nicholas die braune Tasche und Robert wich entsetzt zurück. In der Tiefe blitzten silbrig matt verschiedene chirurgische Instrumente wie Wundspreizer, Trokare, Scheren und Pinzetten.
»Was ist das? Was passiert hier?«
»Ich bin Arzt!«
»Nein, er ist ein Chirurg!«, rief Ulrich. »Unserer Mutter hat er auch schon geholfen.«
Nicholas lächelte.
»Ist schon gut, mein Jong!«, sagte er und tätschelte ihm liebevoll die Wange.
»Mein Lieber, Sir Robert Thomas! Das sind Geburtsinstrumente, die ich zur Entbindung Eures Kindes benötige. Wollt Ihr mir dabei zur Hand gehen, Sir?«
Robert fing an zu taumeln. Woher wusste dieser Mann, wer er in Wirklichkeit war. Das war es! Er war verrückt geworden und diese Szene hier war ein böser Traum. Er lag bewusstlos dort draußen im Wald und der Regen prasselte auf ihn ein. Deutlich vernahm er das Klopfen der Tropfen auf seinem Schädel. Es machte: »klack – klack, klack – klack«. Nicholas hatte seine Tasche mit einem »Klacken« wieder verschlossen und ein trichterförmiges Instrument, ein sogenanntes Hörrohr, entnommen. Emilies Stöhnen wurde jetzt lauter und erfüllte den Raum. Die Kinder schauten besorgt.
»Es wird Zeit! Jetzt wollen wir erst einmal sehen, wie es den beiden geht.« Er zog Robert mit sich.
»Guten Abend, Emilie! Ich heiße Nicholas und Euer Gemahl ist ebenfalls hier. Ihr seid in Sicherheit.« Dabei legte er ihre Hand in die ihres Mannes. Emilie versuchte zu lächeln, doch eine schmerzhafte Wehe erfasste ihren Körper.
»Emilie«, flüsterte Robert, »dieser Mann ist ein Arzt. Es ist unbeschreiblich. Mitten in der Wildnis begegnen wir einem Arzt.« Eine Träne löste sich und rann über seine Wange.
»Euer Kind wird bald kommen und ich werde Euch dabei helfen. Ihr seid alle drei in guten Händen.« Emilie sah zu Nicholas hinüber und nickte.
»Wir werden Euch jetzt von den nassen Kleidern befreien«, sagte dieser. »Veda und Euer Gemahl werden Euch dabei behilflich sein. In der Zwischenzeit werde ich meine Hände waschen, damit ich Euch untersuchen kann.«
»Hände waschen? Aber es eilt. Das ist doch nicht notwendig.«
»Glaubt mir, mein Lieber, es ist mehr als notwendig.« Nicholas senkte den Kopf und wandte sich schweigend ab. Robert beobachtete, wie eine emotionale Wandlung in dem Mann vorging. Mit einem Mal wirkte Nicholas traurig und niedergeschlagen, als würde er großen Seelenschmerz in sich tragen. 
Er ging zu Ulrich hinüber und öffnete ein Fenster. Draußen hatte ein milder Landregen den gewaltigen Sturm abgelöst und ergoss sich gleichmäßig über die dunkle Landschaft. Ulrich füllte frisches Wasser aus einem bauchigen Krug in eine große, blaue Keramikschüssel. Einem Schrank entnahm er saubere Handtücher und legte sie daneben. Dann öffnete er mit äußerster Vorsicht das dunkle Glas und schüttete ein weißliches, krümeliges Pulver mit einem eigenartigen Geruch in das Wasser. Nicholas krempelte die Ärmel hoch und tauchte seine Hände bis zur Mitte der Unterarme in die milchige Flüssigkeit ein. Nachdem er sich einige Minuten lang darin gewaschen hatte, hob er sie heraus und Ulrich goss ihm das restliche Wasser aus dem Krug darüber. Dann nahm er ein Handtuch vom Stapel und trocknete sich sorgfältig damit ab.

In der Zwischenzeit war Emilie vollständig entkleidet und eine wärmende Decke bedeckte ihren Oberkörper. Ihre Kleidungsstücke waren völlig verdreckt und klebten auf der Haut. Beide Beine wiesen rote und blaugrüne Flecken vom Sturz auf. Zum Glück hatte sie sich nichts gebrochen. Hinzu kamen die Wehen, die ihren Körper immer wieder wellenartig und schmerzvoll durchzogen. Dieses alles ertrug Emilie mit großer Geduld. Sie wäre heute fast gestorben, und dass sie lebte, grenzte an ein Wunder. Ab und zu zwischen den Wehen sah sie erwartungsvoll zu ihrem Gemahl hinüber, der ihren Blick aufmunternd erwiderte. Emilie hatte die Beine breit angestellt und fand mit den Füßen Halt an den beiden Bettpfosten. Nicholas tastete konzentriert ihren Bauch ab. Seitlich am Kopfende standen Veda und Ulrich und verfolgten jeden Handgriff mit großer Aufmerksamkeit.
Dann nahm er das Hörrohr, beugte sich vor, stellte den breiten Trichter auf Emilies Bauch, hielt das schlank zulaufende Ende an sein Ohr und horchte.
»Wir haben Glück!«, sagte er nach kurzer Zeit und sah freudig auf. »Das Kind liegt richtig. Es ist ihm nichts geschehen und sein Herz schlägt kräftig. Es wird alles gut werden. Ist das Euer erstes Kind?«
»Ja!«, stöhnte Emilie und eine nächste Wehe durchfuhr ihren Körper.

Der Morgen graute. Ein leises, zufriedenes Schmatzen erfüllte den Raum. Von draußen drang das frühe Lied der Amseln an ihre Ohren. Der Waldboden dampfte feucht vom nächtlichen Regen. Golden lugten die ersten Sonnenstrahlen hinter den »Weißen Klippen« hervor.
Die Lider schwer von der durchwachten Nacht saßen Nicholas und Robert schweigend vor der Hütte und genossen den Beginn des Tages.
»Was für ein wundervoller Morgen!« Robert legte den Kopf in den Nacken und sog die frische Luft in sich auf.
»Dort drunten unter dem Nebel liegt Weidenthal, das vergessene Land hinter den »Weißen Klippen«.« Nicholas beschrieb mit seiner Hand eine unsichtbare Linie am Horizont. »Ihr hattet euch völlig verirrt. Hier kommt nur selten jemand vorbei.«
»Du hast unser aller Leben gerettet. Wir sind dir sehr dankbar!«
»Der Dank gebührt mir nicht allein. Ohne Ulrich hätte ich euch nie gefunden.« Aus seiner Jackentasche zog Nicholas eine Pfeife heraus und stopfte etwas Tabak hinein.
»Der Junge?« Robert zeigte sich überrascht.
»Ja, er nächtigt immer draußen, da er keine geschlossenen Räume mag. Er hat eure Pferde gesehen und beide kurzerhand eingefangen. Dann hat er mich gerufen. Gerade schläft er bei ihnen hinter dem Haus. Er liebt Pferde.«
»Und dann hast du dich auf die Suche gemacht.«
»Richtig!«
Nicholas zog ein paar Mal an seiner Pfeife. Wie von selbst glimmte der Tabak dunkelrot auf. Genussvoll paffte er aus. Grünlicher Rauch stieg mild duftend empor.
»Ehrlich, es war nicht einfach, euch zu finden.«
»Wie machst du das?« Robert deutete auf die Pfeife.
»Das mit der Weidenpfeife eben?«
»Ja, ich habe so etwas nie vorher gesehen! Und wie gut sie riecht!«
»Hm, ja, das Weidenthal birgt viele Geheimnisse und diese Weidenpfeife gehört zu einer alten Legende, die sich um dieses Thal rankt.«
»Ich habe von diesem Thal noch nie gehört!«
»Der Nebel wird sich in Kürze lichten. Du wirst es bald erkennen. Und ihr seid ab heute ein Teil der Legende, das ist eure Bestimmung. Du, Emilie und deine neugeborene Tochter Monya. Eure Geschichte gehört ab heute genauso dazu wie meine. So war es immer, und so wird es immer sein.«
»Du sprichst in Rätseln, Nicholas! Ich weiß nur, ich habe letzte Nacht etwas sehr Mysteriöses erlebt, aber auch etwas Wunderbares und dafür bin ich unendlich dankbar!«
»Es ist schön, dass ich dem zukünftigen Richter behilflich sein konnte! Und jetzt, lass uns Ulrich wecken, damit er die Pferde versorgt und anschließend werden wir alle erst einmal ordentlich frühstücken. Später holen wir dann euer Gepäck herauf!« Und nach einer kleinen Pause fügte er hinzu:
»Ja, Robert, es ist ein wundervoller Morgen!«

*

»… Nicholas?« Robert zupfte seinen Freund am Ärmel. »Alles in Ordnung mit dir?«
»Ja!« Nur langsam fing er sich wieder. »Wer weiß, was uns in nächster Zeit alles bevorsteht!«
»Du meinst die alte Geschichte um Sir Rose und die Zeit der Dunkelheit?«
»Genau«
»Dann hat Linus die ganzen Jahre hindurch recht behalten. Und er lässt sich jetzt sicherlich nicht mehr davon abbringen.«
»Und die Ereignisse häufen sich«, sagte Nicholas und fügte hinzu: »Vivien ist wieder aufgetaucht.«
»Was sagst du da? Vivien?« Robert horchte auf.
»Ich wusste, dass dich das interessiert.« Nicholas öffnete den Knopf der Westentasche und reichte ihm die verblichene Münze.
»Sie sieht so stumpf aus, als sei sämtliche Kraft aus ihr entwichen.« Die Münze lag unscheinbar in der Hand des Richters. »Aber sie ist trotzdem immer noch recht schwer.«
»Vivien hat William einen Wunsch erfüllt. Sie erhält erst ihre Kraft zurück, wenn der Auftrag erfüllt ist.«
»Die Schreibmappe! Hat er sie geöffnet?«
»Ja! Und er hat bereits etwas hineingeschrieben, aber nur irgendwelche bedeutungslosen Sätze. Marcoons Vermächtnis steckte in einem Seitenfach und William hat es entdeckt. Stell dir vor, es war an ihn persönlich adressiert.«
»Erstaunlich!«
»Nicht wahr?«
»Klingt ja alles nach einer aufregenden Zeit.«
»Wir sollten diesen Moment hier oben auf der Burg genießen, solange wir noch atmen können, meinst du nicht auch, Nicholas?«
»Eine gute Idee, Robert! Dann atme mal tief durch.«
Über ihren Köpfen spielte sich ein aufgeregtes Geflatter ab. Bussarde waren am Himmel aufgetaucht und jagten kreischend einige der Schwalben vor sich her.
»Erinnerst du dich an vorletztes Jahr?«, fragte Robert. »Es war ein lausig kalter Winterabend und es fielen die dicksten Schneeflocken, die ich bis dahin jemals gesehen hatte. Ich fror erbärmlich, als ich endlich deine Hütte erreichte. Und ich erinnere mich noch gut an den Geruch von frisch geschlagenen Tannenzweigen und an deinen feinwürzigen Tabak, so als wäre es erst gestern gewesen.«
»Ja, es war ein recht beschaulicher Abend und du hast mir über den seltsamen Vorfall mit Henricus berichtet ...«

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