
Die Harringtons
Im tiefen Dickicht des Erlengrunds, in der Nähe eines kleinen Bachlaufes, traf sich an jenem Morgen die »Wilde Horde« unter der Führung von Andy von Harrington.
Die »Wilde Horde«, wie sie die Bewohner des Gandenthals angsterfüllt nannten, scharte sich um ihren Anführer, um dessen Befehle für den Tag zu empfangen.
Andy, ein Kerl von neunzehn Jahren, gehörte zum uralten Geschlecht der Wolfen – einer Familie, die seit Jahrhunderten im ‚Thal der Sieben Hügel‘ im Nordland lebte.
Sein Vater, Herzog Franziskus von Harrington, war neben seiner Tätigkeit als Staatsoberhaupt ein bedeutender Eisenbahnkonstrukteur. Die Harringtons galten als großzügig und warmherzig. Sie waren wohlhabend, mit Ländereien, die sich weit über das Land verteilten. Dem Herzog wäre nie in den Sinn gekommen, seine Macht, die er zwangsläufig durch seine Position besaß, skrupellos gegenüber den Menschen im Lande auszuspielen.
Die von ihm eingesetzten Grafen schätzten die enorme Klugheit und Weitsicht des Herzogs. Gemeinsam lenkten sie erfolgreich die Geschicke des Landes.
Vor vielen Jahren ließ Franziskus eine Eisenbahnstrecke errichten, die die zwölf Grafschaften untereinander verband.
Zu diesem Zweck wurden über die weiten Täler des Nordlandes Brücken im Stil altrömischer Viadukte errichtet und durch die Berge meilenweite Tunnelanlagen gehauen. Als die Eisenbahn feierlich eröffnet wurde, verbreitete sich in allen Grafschaften eine ausgelassene Stimmung. Die Menschen waren dankbar über so viel Fortschritt in ihrem Lande. Endlich waren sie in der Lage, große Entfernungen, die sie sonst mühsam mit Pferd und Kutsche durch die schwer befahrbaren Wiesen und Wälder zurücklegen mussten, deutlich schneller zu bewältigen. Man rückte näher zusammen, der Handel florierte, und die Post kam schneller ans Ziel.
Die Tradition, Brief per Ross und Reiter zu transportieren, wurde eingestellt. Die Mitglieder der Postexpedition wechselten vom Pferd aufs Eisenross.
Doch über der perfekten Welt der Harringtons schwebte ein dunkler Schatten in Gestalt ihres einzigen männlichen Nachkommens - Andy, der die Großzügigkeit seines Vaters gegenüber dem niederen Volk neidete.
Mit dieser Meinung stand er aber nicht allein da. Einige Angehörige des Wolfengeschlechts bekundeten wiederholt ihren Unmut gegenüber den Harringtons, und zwar immer dann, wenn Franziskus wieder einmal plante, die Steuern zu senken oder Schenkungen an Bedürftige zu verteilen.
Zweifelsohne erkannte Franziskus die innere Spannung, die im Geschlecht herrschte. Er registrierte sehr wohl die ihm drohende, vielleicht sogar tödliche Gefahr, in der er sich befand.
Einer Sache aber konnte er sich stets gewiss sein: der Stärke seines Volkes, das jederzeit hinter ihm stehen würde.
So fühlte er sich bei ihnen auch am wohlsten. Regelmäßig durchreiste er die zwölf Grafschaften, besuchte deren Gasthäuser, feierte mit den Einheimischen gemeinsame Feste und unterstützte Familien, denen Unrecht oder Leid zugefügt worden war. Was galten da schon gelegentliche Unmutsbekundungen von seinen verwöhnten und gelangweilten Verwandten?
Enttäuscht von seinem Vater, der vordergründig nur das Wohl seines Volkes und nicht das seines Sohnes im Blick hatte, verließ Andy eines Tages mit einigen Gleichgesinnten das »Thal der Sieben Hügel« und zog plündernd und brandschatzend durch das angrenzende Südland.
Doch die Häscher des Südens waren ihnen dicht auf den Fersen. Für Andy und seine Mannen gab es nur wenige Unterschlupfmöglichkeiten in der einsamen und von dürren Gräsern durchzogenen Steppenlandschaft. Von ihren Häschern gnadenlos gejagt, flohen sie mit letzter Kraft zurück in die dichten Wälder des Nordlandes. Hier kannten sie sich aus. Die für einen Mischwald mit typischen Gerüchen von Farnkraut, Kiefern und Eichen durchtränkte und pulsierende Kühle belebte sie, ließ sie wieder atmen. Tagelang gruben sie sich tief ins Unterholz, lauschten in die Stille des Waldes hinein und wagten sich, kaum zu rühren. Sie sammelten den morgendlichen Tau von den Blättern, ernährten sich von Insekten und fingen sogar ein ahnungsloses Kaninchen, das sich zufällig ihrem Versteck näherte. Sie verzehrten das Fleisch roh, um sich nicht durch Feuerrauch zu verraten.
Im Laufe der Tage und Nächte verstummten die martialischen Rufe und nächtlichen Gesänge ihrer Verfolger. Das dunkle Bellen und Hecheln ihrer Bluthunde und das ungeduldige Scharren unbeschlagener Hufe im weichen Waldboden verloren sich in den Wäldern. Die Häscher des Südens rückten ab und kehrten in ihr karges Steppenland zurück.
Erleichtert verließen sie ihr Versteck und zogen weiter in Richtung Gandenthal. Im Erlengrund errichteten sie aus Baumstämmen, Sträuchern und Lehm einige behelfsmäßige Behausungen. Des Nachts plünderten sie einsam gelegene Gehöfte, stahlen Ziegen und Schafe von den Weiden, beraubten Reisende ihrer letzten Habseligkeiten und verbreiteten in den Dörfern Angst und Schrecken.
Kurz vor dem Zugriff verlor sich die Spur der »Wilden Horde« immer wieder auf geheimnisvolle Weise. Jeder sprach im Gandenthal von dem »Phantom im Erlengrund« und selbst die Feldhüter, kräftige und unerschrockene Burschen, wagten sich nicht mehr dort hinein.
Andys Befehle an diesem Morgen lauteten: Unruhe und Verwirrung unter der Bevölkerung zu stiften, deren Hab und Gut zu zerstören und die eigenen Vorräte aufzufüllen.