
Auf der Walz
Spätsommer im Jahre 103, nach dem Zerfall der Alten Welt ...
Je weiter sich Lilian von ihrer vertrauten Heimat entfernte, umso mehr wurde ihr gewahr, was es bedeutete, wenn einmal beschlossene Entscheidungen ihren Lauf nahmen. Aus zunächst sicherer Entfernung erschienen die vor ihr liegenden Abenteuer noch vor einigen Tagen als ein einfaches Unterfangen. Dabei kannte sie nichts von der Welt dort draußen. Einzig aus den bruchstückhaften Erzählungen ihres Ziehvaters Vince, formte sich bei ihr im Laufe der Zeit ein vages Bild heraus, das geprägt war von Fernweh nach fremden Kulturen, einer gehörigen Portion ungebändigter Abenteuerlust und dem Drang nach Genugtuung.
Die weißen Gletscher des »Stillen Gebirges« waren längst ihrem Blick entschwunden, als sie gegen Mittag die flachen und weiten Ebenen des Mühlthals erreichte. Die Landschaft war durchaus beeindruckend: Die Sonne stand wärmend am Himmel und verlieh mit ihrem Licht den Äckern und Feldern einen goldenen Glanz, der bis weit hinter den Horizont zu reichen schien. Das Mühlthal war die Kornkammer des Nordlandes, ein wichtiger Landstrich, der von den Feldhütern des Herzogs besonders bewacht wurde. Über das Gebiet verstreut lagen einsame Gehöfte mit weißen Windmühlen, deren Schaufeln Lilian an die fliegenden Blütensamen einer Pusteblume erinnerten. Sie dienten den Farmern hauptsächlich zur Bewässerung ihrer Felder und zum Antrieb der Mühlen, in denen das Mahlgut zerkleinert wurde.
Lilian fühlte sich wohl in ihrer Haut und Hunger und Durst plagten sie nicht. Der Wegesrand war gesäumt von duftendem Wiesenklee und den scharlachroten Blüten des Klatschmohns, Lilians Lieblingsblume. Den Rucksack hatte sie zusammen mit der Laute auf dem Rücken fest verschnürt und der Stock diente ihr als Wanderstab. Ihr Schritt war leicht und beschwingt und so wanderte sie mit einem fröhlichen Lied auf den Lippen an den goldenen Feldern entlang. Hin und wieder traf sie auf Feldarbeiter, denen sie vergnügt zuwinkte. Einige blickten völlig teilnahmslos drein, andere wiederum musterten Lilian mit einem skeptischen Blick, winkten aber dem singenden Mädchen freundlich hinterher, um sich dann wieder ihrer schweren Arbeit zu widmen.
Der Weg vor ihr, soweit sie ihn überblicken konnte, war menschenleer. Auf einmal beschlich sie ein körperliches Unbehagen. Und da vernahm sie es. Das Rascheln und Wispern kam von hinten. Ohne sich umzuschauen, ging sie weiter ihren Weg durch die Felder und versuchte, eine Vielzahl von den verdächtigen Geräuschen hinter sich einzufangen. Ihr munteres Singen hatte sie nach und nach eingestellt. Trotzdem gab sie sich Mühe, weiterhin natürlich zu wirken. Sie wollte den Anschein erwecken, sie hätte ihre Verfolger nicht bemerkt.
Ihr feines, geschultes Gehör erfasste zwei Fremde, die sich ihr mehrmals bis auf Rufweite näherten, um sich dann wieder ein großes Stück zurückfallen zu lassen.
Einer der beiden schien von kräftiger Statur und hochgewachsen, denn sein Schritt war weit ausholend und federnd. Lilian spürte buchstäblich seinen Blick in ihrem Nacken. Der andere wirkte nicht minder gefährlich. Womöglich war er einen Kopf kleiner als sein Kumpan und hatte einiges mehr an Gewicht zu bieten, weshalb sich seine Schritte wie die eines stampfenden Stieres anhörten. Das Klirren und Rasseln ihrer Waffen, die sie am Gürtel mit sich trugen und die bei jedem Schritt aneinanderstießen, klang bedrohlich zu ihr hinüber. Der Atem der Männer ging ruhig, obwohl sie zügigen Schrittes unterwegs waren. Weite Entfernungen konnten sie schnell und ohne große Mühe zurücklegen.
In einer flachen Senke tauchte eine bunte Ansammlung von Häusern auf, die einen Marktplatz umsäumten. Musik und heiteres Gelächter drangen zu ihr herauf. Rasch entschied sie sich, in das Dorf zu gehen, um erst einmal Zeit zu gewinnen. Die Musik und die Stimmen wurden lauter, je näher sie dem Dorf kam und übertönten zunehmend die Geräusche ihrer Verfolger.
Unten angekommen, zog sie sich blitzschnell in eine dunkle Hausecke zurück und spähte auf die Anhöhe. Doch nichts war zu entdecken. Die beiden Männer blieben, wie vom Erdboden verschluckt. Nach einer kleinen Weile des Abwartens betrat sie den Marktplatz. Viele Geräusche und Gerüche erinnerten sie an zu Hause und für einen flüchtigen Moment griff so etwas wie Heimweh nach ihrem Herzen. Die Musik, die Rufe der Händler, all das war ihr gut vertraut. Sie versuchte, gelassen zu wirken, und schlenderte an den Ständen vorüber. Hier und da blieb sie stehen, kaufte sich etwas Brot und Käse, um ihren Proviant aufzufüllen. Die Menschen um sie herum boten ihr den nötigen Schutz, den sie benötigte, um sich Gedanken über ihr weiteres Vorgehen zu machen.
Im Laufe des Nachmittags ebbte das Markttreiben ab. Die Menschen zerstreuten sich, gingen zurück in ihre Häuser oder verließen das Dorf, um nach Hause zurückzukehren. Die Musiker packten ihre Instrumente ein und zogen weiter.
Lilian ging zum Brunnen, der unter einer Linde stand, tauchte ihren Becher in das klare Wasser ein und genehmigte sich einen großen Schluck. Wie gerne wäre sie jetzt am »Stillen See«. Sie dachte an ihre Mutter und an Vince. An alles, was sie zurückgelassen hatte.
Sie starrte auf die Wasseroberfläche. Ihr Spiegelbild hatte sich in einen alten Mann mit einem langen Bart verwandelt und sie sah erschrocken auf. Neben ihr stand ein uralter Greis mit hohlen Wangenknochen und weißlich getrübten, leeren Augen. Er schien erblindet, denn sein Blick ging an ihr vorbei, hinüber über die Weite der Felder. Sein Haar fiel wie Schnee auf seine Schultern und bildete zusammen mit dem Bart und der Kleidung eine Einheit aus Licht. Er wirkte zart und zerbrechlich, fast schon durchscheinend. Seine knochigen Hände stützten sich auf einen übergroßen Wanderstab.
»Ein Mönch«, dachte Lilian, trat einen Schritt zurück und betrachtete voller Neugier die ätherische Erscheinung.
»Wer seid Ihr?«, fragte sie ihn.
Ohne seine Körperhaltung zu verändern, begann er zu sprechen. Trotz seines fortgeschrittenen Alters klang seine Stimme kräftig und vor allem wirkte sie auf Lilian wunderbar warmherzig. Dieser Greis zog sie augenblicklich in ihren Bann und ließ sie alles andere um sie herum vergessen.
»Ich heiße Marcoon, Marlon Marcoon. Reichst du mir bitte etwas Wasser aus dem Brunnen?«
Lilian überlegte, dann löste sie geschwind die Feldflasche von ihrem Gürtel, füllte sie mit dem frischen Nass und drückte sie Marcoon in die Hand. Er trank in kleinen Zügen und lächelte dankbar.
»Wenn du sie neu befüllst, so lege ein Lindenblatt mit hinein, dann bleibt das Wasser länger frisch auf deiner Reise«, sagte er und gab Lilian ihre Feldflasche wieder zurück.
»Danke für deinen Rat!«, sagte sie höflich, griff in die Zweige der Linde und pflückte ein Blatt.
»Es ist mit einem Mal so still an diesem Ort«, bemerkte Marcoon.
»Die Leute sind gegangen«, erklärte Lilian und schaute sich suchend um. »Es ist niemand mehr hier.«
»Sie beobachten dich von dem Hügel dort drüben«, sagte er unvermittelt. »Du scheinst in Schwierigkeiten zu sein.«
»Wer, ich?« Jetzt fiel es ihr wieder ein. Sie war in das Dorf geflüchtet, um ihre Verfolger abzuschütteln, aber die Gefahr schien nicht gebannt. Sie war durch das Erscheinen des alten Mannes abgelenkt und hatte darüber ihre Verfolger völlig vergessen.
Unmut stieg in ihr auf. Sie wollte sich umdrehen, um sich seiner Aussage zu vergewissern. Eine leichte Berührung durch den Wanderstab des Alten an ihrem Fußknöchel hielt sie davon zurück.
»Bleib stehen und sieh dich nicht um. Sonst erweckst du unnötiges Aufsehen. Sie sollen nicht merken, dass wir Bescheid wissen.«
»Was soll ich tun?«, fragte Lilian.
Der alte Mann begann zu schmunzeln, erwiderte aber nichts.
»Diese Männer verfolgen mich schon eine ganze Weile. Sie sind wie Wölfe, mal dicht hinter mir, mal weit entfernt.«
»Wenn du willst, werde ich dich ein Stück deines Weges begleiten. Solange ich bei dir bin, werden sie dir nichts antun.«
»Ich will nicht unhöflich sein, alter Herr, aber Ihr macht mir nicht den Eindruck, als ob Ihr mir Schutz gewähren könntet. Und hinzu kommt, werde ich Euch vertrauen können?«
»Wir werden sehen«, sagte Marcoon und schaute sie jetzt direkt an. »Aber sei getrost, Lilian, du wirst genügend Zeit erhalten, dieses herauszufinden!«