Geheimnisvolles Gandenthal

Marmelade zum Frühstück 

Lohmis und Nicholas besaßen nur wenige, dafür aber gute Nordlandmünzen, die sie an einer geheimen Stelle im Haus versteckt hielten. Sie lebten meistens von Tauschgeschäften, die beide bis zur Perfektion beherrschten. 
Jeden Sonntag ging Nicholas in aller Frühe in den Wald und sammelte Leseholz, um es später beim Bäcker gegen knusprig gebackene Gandenthaler Krüstchen einzutauschen. 
Nachdem der Tisch gedeckt und die Luft erfüllt war vom herrlichen Kaffeeduft, die Krüstchen dampfend vor Ungeduld im Brotkorb auf ihren Verzehr warteten, hielt Lohmis zunächst eine kleine Ansprache über die vielen Unwägbarkeiten des täglichen Lebens, erinnerte an die guten Zeiten seiner Schreinertätigkeit und dankte dem Herrgott in einem Gebet für dessen Großzügigkeit. Kurz darauf stieg er feierlich die Treppe in den Keller hinab, für den ausschließlich er den Schlüssel besaß, kramte polternd in den staubigen Regalen herum, um letzten Endes ein neues Marmeladenglas zutage zu befördern. Das war der Höhepunkt eines jeden Sonntagmorgens im Hause van Botterbloom. Williams Lieblingsmarmelade war eine herrlich duftende Waldbeerenmischung, mit Zimt veredelt. Es lag immer eine gewisse Spannung in der Luft, da sein Vater nie im Voraus verriet, welche neue Sorte er am Sonntag öffnen würde. William hoffte insgeheim auf seine Lieblingssorte, denn die hatte es schon seit einigen Wochen nicht mehr gegeben.

Prompt stieß William in voller Fahrt mit seinem Vater zusammen, der von der Anrichte kam und einen Brotkorb in der Hand hielt. Lohmis packte zu, nutzte den Schwung und beförderte seinen Sohn krachend auf einen Stuhl, sodass er fast nach hinten überkippte. 
»Du bist zu spät!« 
Tolle Erkenntnis, da erzählte er William nichts Neues. 
Drohend baute er sich vor ihm auf. »Es ist immer wieder das Gleiche mit dir! Mit zwölf solltest du doch eigentlich die Uhr lesen können!«, redete er auf ihn ein und ergänzte scharf. »Und benutz endlich ein Handtuch!«.
Genauso hatte er sich diesen Sonntagmorgen vorgestellt: vor ihm sein aufbrausender Vater, auf dem Tisch die dampfenden Gandenthaler Krüstchen, und davor sitzend, der wie immer ruhig und gelassen wirkende Onkel Nicholas und er mittendrin. Und dann die nie enden wollende Leier wegen seines Alters. Das war wieder mal typisch. »Entschuldigung!«, kam es William kleinlaut über die Lippen. 
Sein Vater wirkte angriffslustig. »Das reicht mir nicht! Nein, überhaupt nicht!« William schwieg. Jetzt war Zurückhaltung gefordert. Ihm graute vor der Sense im Hof. 
»Ich warte …«, kam es fordernd.
»Was willst du hören? Dass ich elf oder zwölf bin, nein, sogar schon dreizehn, aber daran erinnerst du dich ja nicht«, entgegnete William kühl und von seinen Worten selbst überrascht, rückte er vorsorglich mit dem Stuhl ein wenig nach hinten, weg aus der Reichweite seines Vaters. Einen Atemzug später setzte er mutig hinzu: »... und die Zeit auf einer Uhr, die kann ich sehr wohl ablesen!«
William sah, wie der mit Bienenwachs glänzende Schnurrbart über den fest verschlossenen Lippen seines Vaters bebte.
»Nun beruhigt euch mal wieder«, mischte sich Onkel Nicholas ein, klopfte einige Brotkrumen vom Hemd, strich seinen dichten Bart glatt und lächelte beide mit vollem Mund an. 
»Also gut«, gab Lohmis nach und setzte sich. »Wir werden ja sehen.« 
Angespannte Stille herrschte im Raum. William wartete kurz ab, dann rückte er an den Tisch heran. Rasch nahm er sich ein Krüstchen aus dem Korb, schnitt es auf, und bestrich es mit Butter. 
Potz – Blitz! Da stand doch direkt vor ihm, seine Lieblingsmarmelade. Genau die, die mit der Waldbeerenmischung und mit einem Hauch Zimt veredelt. Der Zimt war das Beste daran. William liebte den Geschmack von Zimt über alles und dann erst dieser Duft ... mmmh ...! 
Freudig ergriff er das Glasgefäß und zog es zu sich heran. Mit einer schnellen Bewegung wurde es ihm prompt wieder entrissen. 
Irritiert sah William zu seinem Vater hinüber, der das Glas zwischen Daumen und kleinem Finger wie eine Trophäe hin und her schwenkte. 
»Wie schon gesagt, mein Sohn, du hast heute Morgen die Hausregeln verletzt. Du warst sieben Minuten zu spät!«, erklärte Lohmis gefährlich ruhig, seine Stimme klang wie ein Singsang, während er das Marmeladenglas neben seinen Teller stellte. »Wo kämen wir denn dahin, wenn jeder das tun würde, was ihm beliebte?« 
»Aha!« William runzelte nachdenklich die Stirn. Nur sieben Minuten? Dann würde die Strafpredigt ja heute nicht so streng ausfallen. Aber dass ihm seine Lieblingsmarmelade verweigert wurde, erzürnte ihn.
»Teufel und Geister! Ich habe heute Morgen nicht verschlafen. Ich habe an meiner Geschichte gearbeitet«, schwindelte William und vor Wut stieg ihm die Röte ins Gesicht. 
»Du sollst am Tisch nicht fluchen!« Lohmis hob drohend den Zeigefinger. »Und papperlapapp, so ein Quatsch ...! Was für eine Geschichte?«, hakte dieser nach. 
»Na, an meiner Geschichte eben. Du weißt doch ..., ich habe es dir erzählt – aber du hörst ja nie hin!« 
»Ach so, deine unsinnigen Flausen mit der Schriftstellerei«, spottete sein Vater. »Die treibe ich dir noch aus!« 
»Lohmis, lass den Jong frühstücken«, griff erneut Onkel Nicholas schmatzend ein und entnahm dem Korb zwei Gandenthaler Krüstchen. Lobend stellte er fest: »Außerdem schreibt er spannende Geschichten, ich finde, daraus kann etwas werden.« 
»Seit wann bist du des Lesens mächtig? Das ist ja mal ganz was Neues.« 
»Oh, nun ja. William hat sie mir vorgelesen.« Nicholas zwinkerte seinem Neffen kameradschaftlich zu. »Außerdem ist Markttag. Wir werden heute Vormittag dort hingehen, um für William eine neue Schreibmappe zu kaufen. Er hat kein Papier mehr.«
»Verrate mir, Nicholas, von welchen Münzen du das bezahlen willst, he?«, stichelte Lohmis. 
»Ich habe etwas Erspartes. Eine oder zwei gute Münzen werden dafür schon ausreichen, um dem Jong eine Freude zu machen«, erwiderte Onkel Nicholas. 
»Aha, schon wieder jemand, der meinem Sohn eine Freude machen will.« Lohmis fuchtelte jetzt wild in der Luft herum. »Das Gleiche hatte ich heute Morgen mit der Marmelade auch vor, aber der Bub kommt einfach zu spät. Es ist ja schon Tradition in unserem Hause, dass William sonntags immer verschläft.«
William hatte genug. Beim Duft der Gandenthaler Krüstchen zog sich sein Magen knurrend vor Verlangen zusammen. 
»Kein Wunder! Wenn du des Nachts durch das Haus schleichst und meinen Wecker verstellst. Du brauchst ja nur wieder jemanden, der die Gartenarbeit für dich erledigt!« 
Onkel Nicholas zog überrascht die linke Augenbraue hoch.
»Stimmt das, Lohmis? Unterlass das gefälligst!«, betonte er nachdrücklich und ergänzte: »Es ist ein herrlicher Tag heute und es ist Sonntag, da haben Kinder frei!«
Lohmis hob seine Kaffeetasse. Laut schlürfend verzog er das Gesicht. 
»IHR BEIDEN HALTET EUCH WOHL FÜR SEHR GEWITZT, WAS?«, bellte er los und knallte dabei die Tasse auf den Unterteller, dass es nur so schepperte. 
»WEISST DU WAS, NICHOLAS!« Die Stimme brüllte jetzt. »MEINEN SOHN ERZIEHE ICH SO, WIE ICH ES FÜR RICHTIG ERACHTE, IST DAS KLAR?« 
»Trotzdem brauchst du nicht am Sonntag Arbeiten zu verteilen, die du nicht machen willst«, konterte Onkel Nicholas gelassen. 
»Das stimmt! Immer spannst du mich zu irgendwelcher Plackerei ein. Das ist nicht fair!« 
»Fair? Das ich nicht lache! Was ist in diesem Leben schon fair?«, konterte Lohmis.
William war aufgebracht. »Mir egal! Marie wäre bestimmt dagegen!« 
»DEINE MUTTER IST TOT, WILLIAM! Du weißt überhaupt nicht, was sie dazu sagen würde«, erwiderte sein Vater kalt.
William sprang auf. Das war zu viel für ihn. Er warf sein Krüstchen vor Wut auf den Tisch, dass es zwischen den Tassen und Tellern wie ein aufgescheuchter Floh hin und her hüpfte und rannte die Treppe hinauf. 
Dann drehte er sich um und rief: »Weißt Du, was fair wäre?«
»Nein, mein Sohn, lass es mich wissen!«
»Wenn es dich anstatt meiner Mutter erwischt hätte und sie wäre hier bei mir!« 
Geschwind lief er in sein Zimmer zurück und verriegelte die Tür. Schluchzend warf er sich zu Schlaumeier aufs Bett. Der kleine Kater rührte sich nicht. Er schnarchte unbeeindruckt weiter. 

Es dauerte eine ganze Weile, bis sich William wieder beruhigt hatte. Er kam sich verlassen vor, von seinem Vater ungerecht behandelt. 
Traurig erhob er sich, schlurfte zum Tisch und zog das letzte Blatt Papier aus einer verschlissenen Schreibmappe hervor. 
In solchen Momenten träumte William sich weit, weit weg von seinem Vater: Hin zu jenem Ort, wo die Wellen des Meeres den felsigen Sandstrand des Nordlandes sanft umspülten. Hin zu jenem Ort, wo sich das Licht in der Unendlichkeit des Horizonts verlor und wo das ewige Rauschen des Meeres sein kindliches Gemüt beruhigend erwärmte. 
William wusste aus den Erzählungen der Alten von diesem Ort, und dass es dort kleine, beschauliche Dörfer mit bunten Gärten und üppigen Obstplantagen gab. Das ganze Jahr über herrschte stets ein mildes Klima. Eines Tages würde seine Reise ihn dorthin führen, und das Schreiben an diesem Ort sein Leben bestimmen. 

Ein Klopfen weckte ihn aus seinen Tagträumen. 
»Ich bin’s, William! Mach auf!«
Er stand auf und öffnete seinem Onkel, der fast den ganzen Türrahmen ausfüllte. 
Nicholas hatte sich fein herausgeputzt. Er trug ein buntes Hemd aus Patchwork mit einer schwarzen Lederweste darüber. Seine Beine steckten in hohen Stulpenstiefeln und um den Bauch herum, hatte er sich einen breiten Gürtel geschnallt. Auf seinem Haupt trug er einen Hut, den er immer etwas schräg nach vorne ins Gesicht zog, und über seinen Schultern hing ein weiter Mantel. 
»Komm! Lass uns los, die Händler warten schon auf uns!«, sagte er und schaute William dabei aufmunternd an.
William liebte diesen stattlichen Mann, von dem eine geheimnisvolle Aura ausging. Ein liebevoller, zuverlässiger Freund. Leider war er auch sein Einziger, denn die Kinder im Dorf gingen ihm aus dem Weg, weil sie mit dem Sohn eines Pleitegeiers nichts zu tun haben wollten.
»Ich darf bestimmt nicht mit, außerdem habe ich Hunger«, sagte er traurig. 
»Keine Sorge.« Nicholas kramte in den Manteltaschen herum. »Hier muss es doch irgendwo sein! Moment, ja, ich glaube hier.« Mit einem triumphierenden Lächeln zog er ein Gandenthaler Krüstchen hervor und überreichte es William. »Es ist mit deiner Lieblingsmarmelade bestrichen!«

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